Mein Dienst, wenn man eine freie Aufmerksamkeit so nennen darf, bezeichnete sich durchaus ohne Zudringlichkeit und beim Begegnen eher mit einer Art von Ehrfurcht. Sie aber, welche nun auch wohl wußte, daß ihr Verhältnis mir bekannt geworden, konnte mit meinem Benehmen vollkommen zufrieden sein. Die übrige Welt aber, weil ich mich mit jedermann unterhielt, merkte nichts oder hatte kein Arges daran, und so gingen Tage und Stunden einen ruhigen behaglichen Gang.
Von der mannigfaltigsten Unterhaltung wäre viel zu sagen. Genug, es war auch ein Theater daselbst, wo der von uns so oft im Karneval beklatschte Pulcinell, welcher die übrige Zeit sein Schusterhandwerk trieb und auch übrigens hier als ein anständiger kleiner Bürger erschien, uns mit seinen pantomimisch-mimisch-lakonischen Absurditäten aufs beste zu vergnügen und uns in die so höchst behagliche Nullität des Daseins zu versetzen wußte.
Briefe von Haus hatten mich indessen bemerken lassen, daß meine nach Italien so lang projektierte, immer verschobene und endlich so rasch unternommene Reise bei den Zurückgelassenen einige Unruhe und Ungeduld erregt, ja sogar den Wunsch, mir nachzufolgen und das gleiche Glück zu genießen, von dem meine heitern, auch wohl unterrichtenden Briefe den günstigsten Begriff gaben. Freilich in dem geistreichen und kunstliebenden Kreise unserer Herzogin Amalie war es herkömmlich, daß Italien jederzeit als das neue Jerusalem wahrer Gebildeten betrachtet wurde und ein lebhaftes Streben dahin, wie es nur Mignon ausdrücken konnte, sich immer in Herz und Sinn erhielt. Der Damm war endlich gebrochen, und es ergab sich nach und nach ganz deutlich, daß Herzogin Amalie mit ihrer Umgebung von einer, Herder und der jüngere Dalberg von der andern Seite über die Alpen zu gehen ernstliche Anstalt machten. Mein Rat war, sie möchten den Winter vorübergehen lassen, in der mittleren Jahreszeit bis Rom gelangen und sodann weiter nach und nach alles des Guten genießen, was die Umgegend der alten Weltstadt u. s. w., der untere Teil von Italien darbieten könnte.
Dieser mein Rat, redlich und sachgemäß, wie er war, bezog sich denn doch auch auf meinen eigenen Vorteil. Merkwürdige Tage meines Lebens hatte ich bisher in dem fremdesten Zustande mit ganz fremden Menschen gelebt und mich eigentlich wieder frisch des humanen Zustands erfreut, dessen ich in zwar zufälligen, aber doch natürlichen Bezügen seit langer Zeit erst wieder gewahr wurde, da ein geschlossener heimatlicher Kreis, ein Leben unter völlig bekannten und verwandten Personen uns am Ende in die wunderlichste Lage versetzt. Hier ist es, wo durch ein wechselseitiges Dulden und Tragen, Teilnehmen und Entbehren ein gewisses Mittelgefühl von Resignation entsteht, daß Schmerz und Freude, Verdruß und Behagen sich in herkömmlicher Gewohnheit wechselseitig vernichten. Es erzeugt sich gleichsam eine Mittelzahl, die den Charakter der einzelnen Ergebnisse durchaus aufhebt, so daß man zuletzt im Streben nach Bequemlichkeit weder dem Schmerz noch der Freude sich mit freier Seele hingeben kann.
Ergriffen von diesen Gefühlen und Ahnungen, fühlte ich mich ganz entschieden, die Ankunft der Freunde in Italien nicht abzuwarten. Denn daß meine Art, die Dinge zu sehen, nicht sogleich die ihrige sein würde, konnte ich um so deutlicher wissen, als ich mich selbst seit einem Jahre jenen kimmerischen Vorstellungen und Denkweisen des Nordens zu entziehen gesucht und unter einem himmelblauen Gewölbe mich freier umzuschauen und zu atmen gewöhnt hatte. In der mittlern Zeit waren mir aus Deutschland kommende Reisende immerfort höchst beschwerlich; sie suchten das auf, was sie vergessen sollten, und konnten das, was sie schon lange gewünscht hatten, nicht erkennen, wenn es ihnen vor Augen lag. Ich selbst fand es noch immer mühsam genug, durch Denken und Tun mich auf dem Wege zu erhalten, den ich als den rechten anzuerkennen mich entschieden hatte.
Fremde Deutsche konnt' ich vermeiden, so nah verbundene, verehrte, geliebte Personen aber hätten mich durch eignes Irren und Halbgewahrwerden, ja, selbst durch Eingehen in meine Denkweise gestört und gehindert. Der nordische Reisende glaubt, er komme nach Rom, um ein Supplement seines Daseins zu finden, auszufüllen, was ihm fehlt; allein er wird erst nach und nach mit großer Unbehaglichkeit gewahr, daß er ganz den Sinn ändern und von vorn anfangen müsse.
So deutlich nun auch ein solches Verhältnis mir erschien, so erhielt ich mich doch über Tag und Stunde weislich im ungewissen und fuhr unablässig fort in der sorgfältigsten Benutzung der Zeit. Unabhängiges Nachdenken, Anhören von andern, Beschauen künstlerischen Bestrebens, eigene praktische Versuche wechselten unaufhörlich oder griffen vielmehr wechselseitig ineinander ein.
Hiebei förderte mich besonders die Teilnahme Heinrich Meyers von Zürich, dessen Unterhaltung mir, obgleich seltener, günstig zustatten kam, indem er als ein fleißiger und gegen sich selbst strenger Künstler die Zeit besser anzuwenden wußte als der Kreis von jüngeren, die einen ernsten Fortschritt in Begriffen und Technik mit einem raschen lustigen Leben leichtmütig zu verbinden glaubten.
November
Korrespondenz
Rom, den 3. November 1787.
Kayser ist angekommen, und ich habe drüber die ganze Woche nicht geschrieben. Er ist erst am Klavierstimmen, und nach und nach wird die Oper vorgetragen werden. Es macht seine Gegenwart wieder eine sonderbare anschließende Epoche, und ich sehe, man soll seinen Weg nur ruhig fortgehn, die Tage bringen das Beste wie das Schlimmste.
Die Aufnahme meines "Egmont" macht mich glücklich; und ich hoffe, er soll beim Wiederlesen nicht verlieren, denn ich weiß, was ich hineingearbeitet habe, und daß sich das nicht auf einmal herauslesen läßt. Das, was ihr daran lobt, habe ich machen wollen; wenn ihr sagt, daß es gemacht ist, so habe ich meinen Endzweck erreicht. Es war eine unsäglich schwere Aufgabe, die ich ohne eine ungemessene Freiheit des Lebens und des Gemüts nie zustande gebracht hätte. Man denke, was das sagen will: ein Werk vornehmen, was zwölf Jahre früher geschrieben ist, es vollenden, ohne es umzuschreiben. Die besondern Umstände der Zeit haben mir die Arbeit erschwert und erleichtert. Nun liegen noch so zwei Steine vor mir: "Faust" und "Tasso". Da die barmherzigen Götter mir die Strafe des Sisyphus auf die Zukunft erlassen zu haben scheinen, hoffe ich, auch diese Klumpen den Berg hinauf zu bringen. Bin ich einmal damit oben, dann soll es aufs neue angehn, und ich will mein möglichstes tun, euren Beifall zu verdienen, da ihr mir eure Liebe ohne mein Verdienst schenkt und erhaltet.
Was du von Klärchen sagst, verstehe ich nicht ganz und erwarte deinen nächsten Brief. Ich sehe wohl, daß dir eine Nuance zwischen der Dirne und der Göttin zu fehlen scheint. Da ich aber ihr Verhältnis zu Egmont so ausschließlich gehalten habe; da ich ihre Liebe mehr in den Begriff der Vollkommenheit des Geliebten, ihr Entzücken mehr in den Genuß des Unbegreiflichen, daß dieser Mann ihr gehört, als in die Sinnlichkeit setze; da ich sie als Heldin auftreten lasse; da sie im innigsten Gefühl der Ewigkeit der Liebe ihrem Geliebten nachgeht und endlich vor seiner Seele durch einen verklärenden Traum verherrlicht wird: so weiß ich nicht, wo ich die Zwischennuance hinsetzen soll, ob ich gleich gestehe, daß aus Notdurft des dramatischen Pappen—und Lattenwerks die Schattierungen, die ich oben hererzähle, vielleicht zu abgesetzt und unverbunden, oder vielmehr durch zu leise Andeutungen verbunden sind; vielleicht hilft ein zweites Lesen, vielleicht sagt mir dein folgender Brief etwas Näheres.
Angelika hat ein Titelkupfer zum "Egmont" gezeichnet, Lips gestochen, das wenigstens in Deutschland nicht gezeichnet, nicht gestochen worden wäre.
Rom, den 3. November.
Leider muß ich jetzt die bildende Kunst ganz zurücksetzen, denn sonst werde ich mit meinen dramatischen Sachen nicht fertig, die auch eine eigne Sammlung und ruhige Bearbeitung fordern, wenn etwas daraus werden soll.
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