Jetzt ist die fremde Frau fort, und ich kann also nun ohne Zurückhaltung sprechen. Was ist es eigentlich, was der Jude Ihnen abgekauft hat?“
„Ein Lotterielos.“
„Wie kam es, daß Sie es verkauften?“
„Die Mutter war gestorben, und wir hatten kein Geld, sie zu begraben. Da verkauften wir das Los.“
„Kamen Sie selbst auf diesen Gedanken? Besinnen Sie sich; es ist das von Wichtigkeit.“
„Nein, ich kam nicht darauf. Ich ging zu dem Juden, um mir für eine Arbeit einen Vorschuß geben zu lassen. Er gab mir ihn nicht, aber er sagte mir, daß er mir das Los abkaufen wolle.“
„Wieviel hat er Ihnen gegeben?“
„Dreißig Gulden.“
„Da waren Sie wohl ganz glücklich?“
„Ach nein!“ sagte die Frau. „Ich hätte das Los sehr gern behalten, weil meine Mutter kurz –“
„Pst!“ warnte ihr Mann. „Das ist Unsinn. Darüber darf man nicht reden. Du machst dich nur lächerlich.“
„Lassen Sie Ihre Frau immerhin ausreden“, sagte Zander. „Ich werde nicht über sie lachen. Also, liebe Frau, was wollten Sie sagen?“
„Daß ich das Los gar so gern behalten hätte.“
„Warum?“
„Meine Mutter sagte ganz kurz vor ihrem Tod, sie wolle den lieben Gott, sobald sie zu ihm komme, bitten, uns doch etwas gewinnen zu lassen; damit die Not nicht noch größer werde, und damit mein Mann sich schonen könne. Seine Augen sind so sehr schlimm.“
„Wann war es, als Ihre Mutter das sagte?“
„Nach Mitternacht.“
„Und wann starb sie?“
„Gleich darauf.“
Es war ein Blick tiefster Rührung, welchen Zander auf die Leiche warf. Er trat aber zunächst auf den Graveur zu, zog ihn an das Fenster und sagte:
„Augenkrank sind Sie? Hm! Zeigen Sie einmal her!“
Er nahm ihm die Brille ab und untersuchte die Augen, so gut es ihm ohne mechanische und optische Hilfsmittel möglich war. Dann sagte er:
„Haben Sie sich bereits untersuchen lassen?“
„Mehrere Male. Zuletzt vom Armenarzt; einen anderen konnte ich leider nicht bezahlen.“
„Was sagte er?“
Herold warf einen besorgten Blick auf seine Frau.
„Ich verstehe“, meinte Zander. „Er hat Ihnen etwas gesagt, was Sie Ihrer Frau verschwiegen haben?“
„Ja“, gestand der Gefragte.
„Mir können Sie es nicht verschweigen. Er sagte, daß Sie rettungslos einer vollständigen Erblindung entgegengehen. Nicht wahr?“
Die Frau stieß einen Ruf des Schrecks aus.
„Herrgott im Himmel!“ jammerte sie. „Hat er das wirklich gesagt, lieber Franz?“
Der Mann antwortete nicht. Zander sagte:
„Gestehen Sie es immerhin! Hat er es gesagt?“
„Ja“, antwortete der Graveur.
„Das hast du verschwiegen. Darum arbeitest du Tag und Nacht, um doch vorher noch etwas zu verdienen. Oh, du mein lieber Heiland! Blind, unrettbar blind! Dieses Unglück ist –“
„Pst, liebe Frau, regen Sie sich nicht auf!“ fiel ihr Zander in die Rede. „Ich würde ihn nicht aufgefordert haben, es zu sagen, wenn ich nicht anderer Meinung wäre. Ärzte einer gewissen Schule halten dieses Übel allerdings für unheilbar, aber ich verspreche Ihnen, Ihren Mann so herzustellen, daß er in Beziehung auf sein Augenlicht mit keinem anderen tauscht!“
„Herr, ist das wahr?“ rief der Graveur.
„Ja. Sie sind nicht der erste, den ich wegen gerade dieses Übels in Behandlung haben werde. Machen Sie sich also ja keine Sorgen, und hüten Sie sich zunächst vor anstrengender Lichtarbeit!“
„Die kann ich nicht meiden. Wir sind so arm!“
„Nun, dagegen ist ja auch gesorgt. Diese da hat ja ihr Wort gehalten.“
Er deutete dabei auf die Tote. Sie blickten ihn fragend an, und darum fuhr er fort:
„Sie hat nämlich den lieben Gott wirklich gebeten, Ihnen etwas gewinnen zu lassen.“
„Wie? Woher? Wie können Sie das wissen?“
„Weil Gott Ihre Bitte erfüllt hat.“
„Verstehe ich recht –“
„Welche Nummer hatten Sie?“
„Fünfundvierzigtausenddreihundertzweiunddreißig.“
„Das stimmt. Diese Nummer hat gewonnen.“
„Gewonnen? Wann?“
„Heute früh.“
„Herrjemine! Und wir haben sie verkauft!“
„Siehst du!“ klagte die Frau.
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