»Sie bestellen Autoren des 19. Jahrhunderts«, sagte er; »das macht ihnen viel Ehre; uns wird es erlauben, sie abzustauben.

Also,

Monsieur ... Michel Dufrénoy?«

Bei diesem Namen hob der Alte lebhaft den Kopf.

»Sie sind Michel Dufrénoy!« rief er. »Tatsächlich, ich hatte Sie noch nicht angeschaut!«

»Sie kennen mich? ...«

»Und ob ich Sie kenne! ...«

Der Alte konnte nicht weitersprechen; echte Rührung zeichnete sich auf seinem gutmütigen Gesicht ab; er streckte Michel die Hand hin, und voller Zutrauen drückte dieser sie herzlich.

»Ich bin dein Onkel«, sagte der gute Mann schließlich, »dein alter Onkel Huguenin, der Bruder deiner armen Mutter.«

»Mein Onkel! Ihr!« rief Michel ergriffen.

»Du kennst mich nicht! Aber ich kenne dich, mein Kind! Ich war dabei, als du deinen wundervollen Preis für lateinische Verse errungen hast! Mein Herz schlug heftig, und du hast nichts davon geahnt!«

»Mein Onkel!«

»Dich trifft keine Schuld, mein liebes Kind, das weiß ich! Ich hielt mich abseits, fern von dir, um dir bei der Familie deiner Tante nicht zu schaden; aber ich habe deine schulische Laufbahn Schritt für Schritt, Tag für Tag verfolgt! Ich sagte mir: es ist nicht möglich, daß das Kind meiner Schwester, der Sohn eines großen Künstlers, nichts von den poetischen Instinkten seines Vaters geerbt haben sollte, und ich habe mich nicht getäuscht, denn du kommst hierher, um nach den großen Dichtern Frankreichs zu fragen! Ja, mein Kind!

Ich werde sie dir geben! Wir werden sie gemeinsam lesen!

Niemand wird uns dabei stören! Niemand schaut zu uns her!

Laß dich zum ersten Mal küssen!«

Der Alte schloß den jungen Mann in die Arme, und dieser fühlte sich unter seinen Umarmungen aufleben. Es war die süßeste Gefühlsregung, die er bis dahin in seinem Leben gespürt hatte.

»Aber, teurer Onkel«, fragte er, »wie konntet Ihr euch über meine Kindheit auf dem laufenden halten?«

»Mein lieber Sohn, ich habe einen guten Menschen zum Freund, der dir wohlgesinnt ist, dein Professor Richelot, und durch ihn habe ich erfahren, daß du einer der unseren bist! Ich habe dich am Werk gesehen! Ich habe deine Examensarbeit in lateinischen Versen gelesen; ein eher schwer zu behandelndes Thema, zum Beispiel wegen der Eigennamen: Marschall Pélissier auf dem Turm von

Malakow. Die alten historischen Themen sind eben immer noch in Mode, und du hast dich wahrhaftig nicht schlecht aus der Affäre gezogen!«

»Oh!« meinte Michel.

»Nein, nein«, fuhr der alte Gelehrte fort, »du hast aus Pelissierus zwei lange und zwei kurze gemacht, eine kurze und zwei lange aus Malakoff, und du hattest recht damit! Hör nur!

Ich habe mir diese zwei schönen Verse gemerkt: Iam Pelissiero pendenti ex turre Malacoff Sebastopolitam concedit Iupiter urbem .. .4

Ach! mein Kind, wenn es diese Familie nicht gäbe, die mich verachtet und die letzten Endes deine Erziehung bezahlt hat, wie viele Male hätte ich deine wunderbaren Eingebungen ermutigen wollen! Aber jetzt wirst du mich besuchen, und noch dazu oft!«

4 Pélissier, dessen Schicksal am Turm von Malakow hing, liefert Jupiter nun die Stadt Sewastopol aus

»Jeden Abend, lieber Onkel, während meiner freien Stunden.«

»Aber mir scheint, daß deine Ferien ...«

»Ferien, lieber Onkel! Morgen früh trete ich meine Arbeit im Bankhaus meines Cousins an!«

»Du! In einem Bankhaus!« rief der Alte. »Du! Ein Geschäftsmann! Aber es ist ja wahr! Was sollte aus dir werden?

Ein armer Kerl wie ich kann dir nicht weiterhelfen! Ach! Mein Kind, mit deinen Ideen, mit deinen Fähigkeiten bist du allzu spät geboren worden, ich wage nicht zu sagen, allzu früh, denn bei dem Tempo, mit dem sich die Dinge entwickeln, darf man nicht einmal mehr auf die Zukunft hoffen!«

»Aber kann ich mich nicht weigern? Bin ich denn nicht frei?«

»Nein! Du bist nicht frei; Monsieur Boutardin ist leider Gottes mehr als dein Onkel; er ist dein Vormund; ich will und darf dich nicht dazu ermutigen, einen verhängnisvollen Weg einzuschlagen; nein, du bist jung; setze alles daran, dir Unabhängigkeit zu erwerben, und wenn sich deine Vorlieben dann noch nicht verändert haben, wenn ich dann noch auf dieser Welt bin, komm zu mir.«

»Aber der Beruf eines Bankiers erfüllt mich mit Abscheu«, antwortete Michel lebhaft.

»Gewiß, mein Kind, und wenn in meinem Heim Platz für zwei wäre, würde ich zu dir sagen: komm, wir werden glücklich sein; aber dieses Leben würde dich zu nichts bringen, da man es nun einmal unbedingt zu etwas bringen muß; nein! arbeite! vergiß mich ein paar Jahre lang; ich wäre dir ein schlechter Ratgeber; sprich mit niemandem darüber, daß du deinen Onkel getroffen hast; das könnte dir schaden; denk nicht mehr an den Alten, der schon längst gestorben wäre ohne seine süße Gewohnheit, jeden Tag hierherzukommen, um seine alten Freunde in den Regalen dieses Saales wieder zu treffen.«

»Wenn ich frei bin«, sagte Michel.

»Ja! In zwei Jahren! Du bist sechzehn; mit achtzehn bist du volljährig; wir werden warten; aber vergiß nicht, Michel, daß ich immer einen kräftigen Händedruck, einen guten Ratschlag und ein offenes Herz für dich bereit haben werde. Du wirst mich besuchen«, fügte der Alte hinzu und widersprach sich damit selbst.

»Ja! Ja! Liebster Onkel! Wo wohnt Ihr denn?«

»Weit, sehr weit weg! In der Ebene von Saint-Denis; aber durch den Gleisanschluß am Boulevard Malesherbes ist es nur ein Katzensprung bis zu mir nach Hause; dort habe ich ein recht kleines und recht kaltes Zimmer, doch es wird groß sein, wenn du kommst, und warm, wenn ich deine Hände in die meinen schließe.«

Auf diese Weise spann sich die Unterhaltung zwischen Onkel und Neffe fort; der alte Gelehrte wollte bei dem jungen Mann jene schöngeistigen Neigungen ersticken, die er zugleich bewunderte, und seine Worte wurden seinem Willen in jedem Augenblick untreu; er wußte, wie falsch, deklassiert, unmöglich die Lage eines Künstlers sein würde.

So plauderten sie über alles mögliche; der gute Mann öffnete sich wie ein altes Buch, das der junge Bursche zuweilen durchblättern käme und das gerade gut genug war, ihm Dinge aus vergangenen Zeiten zu erzählen.

Michel sprach vom Zweck seines Besuches in der Bibliothek und befragte seinen Onkel über den Untergang der Literatur.

»Die Literatur ist tot, mein Kind«, antwortete der Onkel; »schau dir diese menschenleeren Säle an und diese unter ihrem Staub begrabenen Bücher; man liest nicht mehr; ich bin der Hüter dieses Friedhofs hier, und die Exhumierung ist untersagt.«

Während dieses Gesprächs verging die Zeit wie im Flug.

»Vier Uhr«, rief der Onkel, »wir müssen Abschied nehmen.«

»Ich werde Euch wiedersehen«, sagte Michel.

»Ja! Nein! Mein Kind! Laß uns nie wieder über Literatur, nie über Kunst sprechen! Nimm die Situation so hin, wie sie ist! Du bist Monsieur Boutardins Mündel, und erst an zweiter Stelle der Neffe deines Onkels Huguenin!«

»Ich will Euch begleiten«, sagte der junge Dufrénoy.

»Nein! Wir könnten gesehen werden. Ich gehe allein.«

»Also bis nächsten Sonntag, lieber Onkel.«

»Bis Sonntag, mein teurer Sohn.«

Michel ging als erster hinaus, aber er wartete auf der Straße; er sah, wie der Alte mit immer noch festem Schritt den Weg zum Boulevard einschlug; er folgte ihm von weitem bis zur Station Madeleine.

»Endlich«, sagte er zu sich selbst, »bin ich nicht mehr allein auf der Welt!«

Er kehrte in das Herrschaftshaus zurück. Die Familie Boutardin dinierte glücklicherweise in der Stadt, und Michel verbrachte seinen ersten und letzten Ferienabend friedlich in seinem Zimmer.

Fünftes Kapitel

Wo von Rechenmaschinen die Rede ist

sowie von sich selbst verteidigenden

Registrierkassen.

Am nächsten Tag ging Michel Dufrénoy um acht Uhr in die Büroräume der Bank Casmodage & Co.; sie lagen an der Rue Neuve-Drouot in einem jener Häuser, die an der Stelle der alten Oper erbaut worden waren; der junge Mann wurde in ein weitläufiges Parallelogramm geführt, das mit seltsam geformten Apparaten ausgestattet war, die ihm nicht sogleich auffielen. Sie glichen überdimensionalen Klavieren.