Der alte Persicke würde sich am liebsten schon wieder einen neuen Schnaps genehmigen, aber das wagt er nicht, solange der Baldur spricht. Er weiß aus Erfahrung, der Baldur kann sehr unangenehm werden, wenn man seinen politischen Vorträgen nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt.
Der Sohn fährt unterdes fort: «Also, das Bild ist gestellt, es ist gar nicht beim Eintreffen der Nachricht von der Kapitulation gemacht worden, sondern vorher. Und nun seht euch an, wie sich der Führer freut! Der denkt jetzt schon längst an England, und wie wir die Tommys drankriegen.
Nee, das ganze Bild ist eine Schauspielerei, von der Aufnahme angefangen bis zum Händeklatschen. Das heißt, den Dummen Sand in die Augen gestreut!»
Jetzt starren den Baldur die Seinen so an, als seien sie die Dummen, denen Sand in die Augen gestreut wird.
Wenn's nicht der Baldur gewesen wäre, jeden Fremden hätten sie für so 'ne Bemerkung bei der Gestapo angezeigt.
Der Baldur aber fährt fort: «Seht ihr, und das ist das Große an unserem Führer: er läßt keinen in seine Pläne reingucken. Die denken jetzt alle, er freut sich über seinen Sieg in Frankreich, und dabei sammelt er vielleicht schon die Schiffe für eine Invasion auf der Insel. Seht ihr, das müssen wir von unserm Führer lernen: wir sollen nicht jedem auf die Semmel schmieren, wer wir sind und was wir vorhaben!» Die andern nicken eifrig; endlich glauben sie erfaßt zu haben, worauf der Baldur hinauswill. «Ja, ihr nickt», sagt der Baldur ärgerlich, «aber ihr macht's ganz anders! Keine halbe Stunde ist es her, da habe ich Vatern vor der Briefträgerin sagen hören, die olle Rosenthal oben soll uns Kaffee und Kuchen spendieren ...»
«Och, die olle Judensau!» sagt Vater Persicke, aber doch mit einem entschuldigenden Ton in der Stimme.
«Na ja», gibt der Sohn zu, «viel Aufhebens wird von der nicht gemacht, wenn ihr mal was passiert. Aber wozu den Leuten so was erst erzählen? Sicher ist sicher. Guck dir mal 'nen Menschen an wie den über uns, den Quangel.
Kein Wort kriegst du aus dem Manne heraus, und doch bin ich ganz sicher, der sieht und hört alles und wird auch seine Stelle haben, wo er"s hinmeldet. Wenn der mal meldet, die Persickes können die Schnauze nicht halten, die sind nicht zuverlässig, denen kann man nichts anvertrauen, dann sind wir geliefert. Du wenigstens bestimmt, Vater, und ich werde keinen Finger rühren, um dich wieder rauszuholen, aus dem KZ oder aus Moabit oder aus der Plötze, oder wo du grade sitzt.»
Alle schweigen, und selbst ein so eingebildeter Mensch wie der Baldur spürt, daß dieses Schweigen nicht bei allen Zustimmung bedeutet. So sagt er noch rasch, um wenigstens die Geschwister auf seine Seite zu bringen: «Wir wollen alle ein bißchen mehr werden als Vater, und wo-durch kommen wir zu was? Doch nur durch die Partei!
Und darum müssen wir"s so machen wie der Führer: den Leuten Sand in die Augen streuen, so tun, als wären wir freundlich, und dann hintenrum, wenn keiner was ahnt:
erledigt und weg. Es soll auf der Partei heißen: Mit den Persickes kann man alles machen, einfach alles!»
Noch einmal sieht er das Bild mit den lachendem Hitler und Göring an, nickt kurz und gießt dann Schnaps ein, zum Zeichen, daß sein politischer Vortrag beendet ist. Er sagt: «Zieh bloß keinen Flunsch, Vater, weil ich dir mal die Meinung gegeigt habe!»
«Du bist erst sechzehn und mein Sohn», fängt der Alte, noch immer gekränkt, an.
«Un du bist mein Oller, den ich zu ville besoffen gesehen habe, als daß du mir noch groß imponierst», sagt Baldur Persicke rasch und bringt damit die Lacher, sogar die ständig verängstigte Mutter, auf seine Seite. «Nee, laß man, Vater, eines Tages werden wir noch im eigenen Au-to fahren, und du sollst alle Tage Sekt zu saufen kriegen, bis du voll bist!»
Der Vater will wieder etwas sagen, aber dieses Mal nur gegen den Sekt, den er nicht so schätzt wie seinen Kornschnaps. Aber Baldur fährt rasch und leiser fort: «Ideen hast du gar nicht so schlechte, Vater, bloß, du solltest mit keinem darüber reden als mit uns. Mit der Rosenthal ist vielleicht wirklich was zu machen und mehr als Kaffee und Kuchen. Laßt mich nur darüber nachdenken, das muß vorsichtig angefaßt werden. Vielleicht riechen andere den Braten auch, und vielleicht sind andere besser angeschrieben als wir!»
Seine Stimme hat sich gesenkt und ist gegen den Schluß hin fast unhörbar geworden. Baldur Persicke hat es wieder fertiggebracht, er hat alle auf seine Seite gezogen, selbst den Vater, der erst eingeschnappt war. So sagt er denn:
«Prost auf die Kapitulation von Frankreich!», und weil er sich dabei lachend auf die Schenkel klatscht, merken sie, daß er damit etwas ganz anderes meint, nämlich die alte Rosenthal.
Sie lärmen durcheinander und stoßen an und trinken so manchen Schnaps, immer einen hinter dem andern. Aber sie vertragen auch was, dieser ehemalige Gastwirt und seine Kinder.
Ein Mann namens Borkhausen
Der Werkmeister Quangel ist auf die Jablonskistraße hinausgetreten und hat vor der Haustür herumstehend den Emil Borkhausen getroffen. Es schien der einzige Beruf Emil Borkhausens zu sein, immer irgendwo rumzustehen, wo es was zu gaffen oder zu hören gab. Daran hatte auch der Krieg nichts geändert, der doch überall mit Dienstverpflichtungen und Arbeitszwang vorgegangen war: Emil Borkhausen stand weiter rum.
Er stand da, eine lange, dürre Gestalt in einem abgetragenen Anzug, und sah verdrossen mit seinem farblosen Gesicht in die um diese Stunde fast menschenleere Jablonskistraße. Als er Quangels ansichtig wurde, kam Bewegung in ihn, er trat auf ihn zu und bot ihm die Hand.
«Wo gehen Sie denn jetzt hin, Quangel?» fragte er. «Das ist doch noch nicht Ihre Zeit für die Fabrik?»
Quangel übersah die Hand des andern und murmelte fast unverständlich: «Eiliger Weg!»
Dabei ging er schon weiter, nach der Prenzlauer Allee zu.
Dieser lästige Schwätzer hatte ihm gerade noch gefehlt!
So leicht ließ sich der aber nicht abschütteln. Er lachte meckernd und rief: «Da haben wir ja denselben Weg, Quangel!» Und als der andere, stur geradeaus starrend, weiterschritt, setzte er hinzu: «Der Doktor hat mir nämlich gegen meine Hartleibigkeit viel Bewegung verordnet, und allein rumlaufen, das langweilt mich!»
Er fing nun an, genau zu schildern, was er alles schon gegen seine Hartleibigkeit getan hatte. Quangel hörte gar nicht hin. Ihn beschäftigten zwei Gedanken, und der eine verdrängte immer wieder den andern: daß er keinen Sohn mehr hatte und daß Anna gesagt hatte: Du und dein Führer. Quangel gab es sich zu: er hatte den Jungen nie geliebt, wie ein Vater seinen Sohn zu lieben hat.
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