Übrigens war es nicht so schlimm. Wir wurden durch übertriebene Berichte verleumdet und die beiden Planta zogen an euern Tagsatzungen und in aller Herren Ländern herum, uns anzuschwärzen und schlechtzumachen.« –
»Der keiner Partei verfallene und von allen Rechtschaffenen geachtete Fortunatus Juvalt hat nach Zürich geschrieben, ihr wäret unbarmherzig mit ihm umgegangen.« –
»Geschah dem Pedanten recht! In einer kritischen Zeit muß man Partei zu ergreifen wissen. Es heißt: die Lauen will ich aus dem Munde speien.« –
»Er klagte, es wären falsche Zeugen gegen ihn aufgestanden.« –
»Mag sein. Auch kam er ja mit dem Leben davon und wurde nur zu einer Buße von vierhundert Kronen verurteilt wegen zweideutiger Gesinnung.« –
»Ich begreife«, fuhr Waser nach einer Pause fort, »daß ihr Pompejus Planta und seinen Bruder Rudolf des Landes verweisen mußtet; aber war es denn nötig, sie wie gemeine Verbrecher zu brandmarken und mit Henkerstrafen zu bedrohen, ohne Rücksicht auf die glänzenden Verdienste ihrer Vorfahren und die tiefen Wurzeln ihrer Stellung im Lande?« –
»Niederträchtige Verräter!« fuhr Jenatsch zornblitzend auf. »Die Schuld unserer ganzen Gefahr und Verstrickung lastet auf ihnen und möge sie zermalmen! Zuerst und vor allen haben sie mit Spanien gezettelt! Kein Wort, Heinrich, zu ihrer Verteidigung!« –
Verletzt durch dies herrische Ungestüm, sagte Waser mit etwas gereizter Stimme und dem Gefühle, jetzt einen wunden Punkt zu treffen: »Und der Erzpriester Nicolaus Rusca? – Er galt allgemein für unschuldig.« –
»Ich glaube, er war es« – flüsterte Jenatsch, dem sichtlich bei dieser Erinnerung unbehaglich zumute ward, und blickte starr vor sich hin in die Dämmerung.
Erstaunt über diese seltsame Aufrichtigkeit schwieg der andere eine Weile. »Er ist auf der Folter mit durchgebissener Zunge gestorben ...« sagte er endlich vorwurfsvoll.
Jenatsch antwortete in kurzen abgerissenen Sätzen: »Ich wollte ihn retten ... Wie konnt ich wissen, daß der Schwächling die ersten Foltergrade nicht überstehen würde ... Er hatte persönliche Feinde. Die Aufregung gegen die römischen Pfaffen wollte ihr Opfer haben. Unsere katholischen Untertanen hier im Veltlin mußten eingeschüchtert werden. Es kam, wie geschrieben steht: Besser ist's, daß einer umkomme, als daß das ganze Volk verderbe.« –
Wie um die trübe Stimmung abzuschütteln, erhob sich nun Jenatsch, den Freund aus dem dunkelnden Gartenraume ins Haus zu führen. Über der Mauer sah man den schlanken Kirchturm vom letzten Abendgold sich abheben.
»Der Unglückliche hat übrigens hier noch zahlreiche Anhänger«, sagte er, und dann auf die Kirche weisend: »dort las er seine erste Messe vor dreißig Jahren.« –
Im Hauptgemach, das nach dem Flur offenstand, brannte eine Lampe. Als die beiden das Haus betraten, sahen sie die Junge Frau an der Vordertür bei einer Freundin stehen, die sie herausgerufen zu haben schien und ihr mit ängstlichen Gebärden etwas zuflüsterte. Hinter den Frauen liefen in der dämmernden Dorfgasse Leute vorüber und man vernahm ein wirres Getön von Stimmen, aus dem jetzt deutlich der Ruf eines alten Weibes hervorkreischte: »Lucia, Lucia! Ein entsetzliches Wunder Gottes!«
Jenatsch, dem solche Szenen nicht neu sein mochten, wollte, seinem Gaste den Vortritt lassend, die Zimmerschwelle überschreiten, als die junge Frau sich ihm näherte und ihn angstvoll am Ärmel faßte. Waser, der sich umwendete, sah, wie sie totenblaß die gefalteten Hände zu ihrem Manne erhob.
»Geh an deinen Herd, Kind, und besorge uns ruhig das Abendessen«, befahl er freundlich, »damit du mit deiner Kunst bei unserm Gaste Ehre einlegest.« Dann wandte er sich unmutig lachend zu Waser: »Die verrückten welschen Hirngespinste! Sie sagen, der tote Erzpriester Rusca stehe drüben in der Kirche und lese Messe! – Ich will dem Wunder zu Leibe rücken. Kommst du mit, Waser?«
Diesem lief es kalt über den Rücken, aber die Neugierde überwog und: »Warum nicht!« sagte er mit mutiger Stimme; dann, als sie der vorwärts treibenden Menge verstörter Leute durch die Dorfgasse nach der Kirche folgten, fragte er flüsternd: »Der Erzpriester ist doch wirklich nicht mehr am Leben?«
»Sapperment!« versetzte der junge Pfarrer, »ich war dabei, als man ihn unter dem Galgen in Thusis verscharrte.«
Jetzt traten sie durch die Hauptpforte in die Kirche. Das Schiff, welches sie nun durchschritten, war zum Behufe des protestantischen Gottesdienstes von allen Heiligtümern gereinigt und enthielt außer den Bänken für die Zuhörer nur den Taufstein und eine nackte Kanzel. Ein Bretterverschlag mit einer kleinen Türe trennte davon den weiten Chor, der den Katholiken verblieben und von ihnen zur Kapelle eingerichtet worden war.
Als Jenatsch öffnete, befanden sie sich dem Hauptaltare gegenüber, dessen heiliger Schmuck und silbernes Kruzifix in einem letzten durch das schmale Bogenfenster einfallenden Abendschimmer kaum mehr zu erkennen waren. Vor ihnen drängte sich Kopf an Kopf die knieende murmelnde Menge, Weiber, Krüppel, Alte. Längs der Wände schoben sich dürftige Männergestalten, mit den langen magern Hälsen vorwärts lauschend und den Filz krampfhaft vor die Brust gedrückt.
Auf dem Hochaltare flackerten zwei düstere Kerzen, deren Licht mit dem letzten von außen kommenden Schimmer der Dämmerung kämpfte. Die zwei Flämmchen bewegten sich in einem von zerbrochenen Fensterscheiben eingelassenen Luftzuge, der sie auszulöschen drohte, und tanzende Schatten trieben auf dem Altare ein seltsames Spiel. Der streichende Wind bewegte zuweilen mit leisem Geknatter die schwach schimmernden Falten der Altardecke. Erregte Sinne mochten wohl das weiße Gewand eines Knieenden auf den Stufen erblicken.
Jenatsch stieß im Mittelgange mit seinem Freunde vor, von den einen, in Verzückung Versunkenen, kaum bemerkt, von den andern mit bösen, feindlichen Blicken und leisen Verwünschungen verfolgt, aber von keinem zurückgehalten. Jetzt stand der athletische Mann, allen sichtbar, dem Altare gegenüber; aber vor diesem hatte sich auch schon eine Anzahl unheimlicher Gesellen wie eine Schutzwehr gegen Heiligenschändung drohend zusammengedrängt. Waser glaubte blinkende Dolche zu erblicken.
»Was ist das für ein unchristlicher Zauber!« rief Jenatsch mit schallender Stimme. »Laßt mich zu, daß ich ihn breche!« –
»Sacrilegium!« murrte es aus der dichten Reihe der Veltliner, die einen Ring um den Bündner zu schließen begann. Zwei griffen nach seiner vorgestreckten Rechten, andere drängten sich von hinten an ihn; aber Jenatsch machte sich mit einem gewaltigen Rucke frei. Um sich nach vorn Luft zu schaffen, packte er den nächsten seiner Angreifer mit eiserner Faust und schleuderte ihn rücklings gegen den Hochaltar. Der Stürzende schlug mit ausgebreiteten Armen, die nackten Füße gegen die Menge streckend, hart auf die Stufen und begrub den buschigen Hinterkopf in die Altardecken. Leuchter und Reliquienschreine klirrten und es erhob sich ein langes durchdringendes Wehgeheul.
Dieser Moment der Verwirrung rettete den Pfarrer.
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