. . Heraus damit!« drang Jenatsch auf ihn ein.

»Jürg, du kennst mich! Du weißt, daß ich mir diese Faustrechtmanieren nicht gefallen lasse, ich verbitte mir das«, wehrte Waser mit möglichst kalter Miene ab.

Da legte ihm der andere liebkosend den starken Arm um die Schultern und sagte mit zärtlicher Wärme: »Sei offen, Herzenswaserchen! Du verkennst mich! Nicht für meine Person sorg ich, sondern für mein vielteures Bünden. Wer weiß, vielleicht hängt an deinen Lippen seine Rettung und das Leben von Tausenden!« ...

»Schweigen ist hier Ehrensache«, versetzte Waser und machte einen Versuch sich der leidenschaftlichen Umarmung zu entziehen.

Jetzt fuhr eine düstere Flamme über das Antlitz des Bündners. »Bei Gott«, rief er, den Freund an sich pressend, »sprichst du nicht, so erwürg ich dich, Waser!« und als der Erschrockene schwieg, griff er nach dem Dolchmesser, womit er Brot geschnitten, und richtete die drohende Spitze desselben gegen die Halskrause des Zürchers.

Dieser wäre sicherlich auch jetzt noch standhaft geblieben, denn er war im Innersten empört; aber bei einer unvorsichtigen Bewegung des Sträubens, die er gemacht, hatte der spitze Stahl seinen Hals geritzt und ein paar Blutstropfen rieselten unheimlich warm gegen die Halskrause herunter.

»Laß mich, Jürg«, sagte er, leicht erbleichend, »ich will dir etwas zeigen!« Er holte zuerst sein weißes Schnupftuch heraus und wischte sich behutsam das Blut ab; dann zog er sein Taschenbuch hervor, schlug das Blatt mit der Skizze der Juliersäulen auf und legte es auf den Tisch hin vor Jenatsch, der das Büchlein hastig ergriff. Der erste Blick des Bündners auf die Zeichnung traf die von Lucretia zwischen die Juliersäulen geschriebenen Worte und er versank plötzlich in finsteres Nachdenken.

Waser, der ihn schweigend beobachtete, erschrak innerlich über den Eindruck, den Lucretias von ihm wider Willen übernommene und bestellte Botschaft auf Jürg Jenatsch machte. Er hatte nicht ahnen können, wie rasch der Scharfsinn des Volksführers den Zusammenhang der Tatsachen erriet und wie sicher und unerbittlich er sie verkettete. Trauer und Zorn, weiche Erinnerungen und harte Entschlüsse schienen über den halb Abgewandten wechselnd Gewalt zu gewinnen. »Arme Lucretia!« hörte Waser ihn aus tiefster Seele seufzen, dann wurde sein Ausdruck immer rätselhafter, verschlossener, und härtete sich zur Undurchdringlichkeit. – »Sie waren auf dem Julier ... ihr Vater ist also in Bünden ... Stolzer Herr Pompejus, du hast einen Robustell zum Spießgesellen ... tief gesunken!« sprach er fast ruhig.

Plötzlich sprang er auf: »Nicht wahr, Waser, meine verwünschte Hitze? Du hattest auf der Schule davon zu leiden und ich bin ihrer noch immer nicht Herr geworden! . . . Geh zu Bette und verschlafe dein böses Abenteuer! – Morgen in der kühlen Frühe machen wir den Ritt nach Fuentes auf zwei untadeligen Maultieren. Du sollst an mir den leidlichen Gesellen finden von ehedem. Unterwegs läßt sich über manches gemütlich plaudern.«

 

Fünftes Kapitel

 

Herr Waser erwachte vor Tagesanbruch. Als er mit Mühe den Fensterladen aufstieß, der von dem üppigen Geäste und Blätterwerke eines Feigenbaumes gesperrt und dicht überflochten war, geschah es im Widerstreite zweifelnder Gedanken. Er war mit dem Vorsatze entschlafen, seinen gewalttätigen Freund und das allzu abenteuerliche Veltlin ohne Zögern und auf dem nächsten Wege über Chiavenna zu verlassen. Ein erquickender Schlaf jedoch hatte die gestrigen Eindrücke gemildert und seinen Entschluß wankend gemacht. Die Liebe zu seinem merkwürdigen Jugendfreunde gewann die Oberhand. War es denn dieser heftigen und, wie er sich sagte, nicht durch städtische Bildung veredelten Natur stark zu verargen, wenn sie losbrach, wo Heimat und Leben gefährdet war? Und kannte er nicht von früher her Jürgs jähen Stimmungswechsel, seine wilden, heißblütigen Scherze! Eines jedenfalls war für ihn außer Frage: Durch plötzliche Abreise hätte er ein Unheil nicht verhütet, das aus dem halben Geständnisse entstehen konnte, welches ihm Jürg abgezwungen; blieb er aber, teilte er seinem Freunde das Erlebte vollständig mit, so erwiderte dieser sicherlich sein Vertrauen und er erfuhr, wie sich Jürgs Verhältnis zu Lucretias Vater so grenzenlos verbittert hatte. Dann erst kam der Augenblick, seinen versöhnenden Einfluß geltend zu machen.

So ritten sie in vertraulichem Gespräche nach Fuentes. Jenatsch kam nicht auf das Gestrige zurück und war freudig wie der helle Morgen. Fast leichtsinnig nahm er Wasers ausführlichen Reisebericht entgegen und bereitwillig antwortete er auf dessen eingehende Fragen. Aber Waser erfuhr weniger und minder Wichtiges, als er erwartete. – Nach einem letzten Universitätsjahre in Basel, erzählte Jürg, sei er ins Domleschg zurückgekehrt. Dort habe er seinen Vater auf dem Sterbelager gefunden und sei nach dessen Ableben von den Scharansern trotz seiner grünen achtzehn Jahre einstimmig zu ihrem Pfarrer gewählt worden. Auf Riedberg habe er einen einzigen Besuch gemacht, wobei er allerdings mit Herrn Pompejus über politische Dinge in Wortwechsel geraten sei.