Aber die lustige Begrüßung, die Waser erwartete, blieb aus. Pancrazis kurze Gestalt drängte hastig vorwärts und streckte ihnen die Rechte mit abmahnender Gebärde entgegen als bedeute er die Reisenden, ihre Maultiere zu wenden. Nun hatte er sie fast erreicht und rief ihnen zu:
»Zurück, Jenatsch! Nicht hinein nach Morbegno!« –
»Was bedeutet das?« fragte dieser ruhig.
»Nichts Gutes!« versetzte Pancratius. »Wunder und Zeichen geschehen im Veltlin, das Volk ist aufgeregt, die einen liegen in den Kirchen auf den Knieen, die andern laden ihre Büchsen und wetzen ihre Messer. Zeige dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf deine Pfarre zurück, wende dein Tier und flüchte nach Chiavenna!«
»Was? Ich soll mein Weib im Stiche lassen?« fuhr Jenatsch auf, »meine Freunde nicht warnen? Den braven Alexander und den redlichen Fausch auf seinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück – natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein Kamerad hier, Herr Waser von Zürich, kennt keine Furcht ... und du, Pancrazi, tust mir den Gefallen und kommst mit. Du nächtigst bei mir. Meine Berbenner sind nicht so gottverlassen, daß sie des heiligen Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten.«
Nach kurzem Besinnen willigte der Kapuziner ein. »Meinetwegen, am Ende!« sagte er. »Heute bin ich dein Schutzpatron, ein andermal bist du der meinige.«
So ritten sie, was ihre Tiere laufen konnten, nach Berbenn hinüber und wie wenig Waser auch diese wilden Ereignisse zusagten, er machte gute Miene und rechnete es sich zur Ehre, das ihm erteilte Lob der Tapferkeit zu verdienen.
Eben ertönte die friedliche Abendglocke, als sie vor der Pfarre von Berbenn abstiegen. Unter dem niedrigen Eingangsbogen des Laubdaches stand ein breitschultriger ernster Mann von kleiner Statur aber mit ausdrucksvollem Kopfe, nachdenklich und aufmerksam seinen Hut betrachtend, welchen er nach allen Seiten drehte und gegen das Licht hielt. Es war ein hoher spitzer Filz von schwarzer Farbe.
»Was stellst du da für tiefsinnige Untersuchungen an, Kollege Fausch?« begrüßte ihn Jenatsch. »Was ist's mit deinem Filz? Oben aufgerissen, wie ich sehe. Willst du ihn hinfür zur Verstärkung deines Basses als Sprachrohr gebrauchen?«
Sorgenvoll erwiderte der Kleine: »Betrachte das Loch näher, Jürg! Seine Ränder sind verbrannt. Es ist eine Kugel durchgefahren, die mir einer deiner Berbenner zuschickte, als ich durch die Weinberge hinunterstieg. Natürlich galt sie dir; denn man sah über der Mauer nur meinen Kopf und der gleicht dem deinigen, wie du weißt, zum Verwechseln. Der Teufel soll mich holen«, fuhr er heftiger fort, »wenn ich nicht den geistlichen Stand quittiere. Der Part ist ungleich: uns ist nur das Schwert des Geistes gestattet, angefallen aber wird unser Fleisch mit Eisen und Blei.« –
»Gedenke deines Schwurs, Fausch, mein Sohn, das Evangelium zu predigen usque ad martyrium«, erscholl aus dem Hintergrunde der Laube von einer tief beschatteten Bank her die etwas dumpfe Stimme eines graubärtigen Mannes, der dort in aufrechter Haltung am Tische saß und sich von der schönen Lucia Sasseller einschenken ließ. Das junge Weib aber erblickte kaum ihren Mann, so eilte es ihm entgegen und schmiegte sich bleich und furchtsam an seine Seite, als suche es Schutz vor einer entsetzlichen Angst.
»Exclusive, Blasius! exclusive! Bis an den Martertod hinan, aber nicht hinein!« antwortete Fausch, sich zu seinem Kollegen wendend, dessen Glas er ergriff und bis auf den letzten Tropfen leerte.
Indessen machte Jenatsch seinen zürcherischen Freund mit dem glaubensstarken Pfarrer Blasius bekannt und stellte ihm dann lachend in Pfarrer Lorenz Fausch einen Schulkameraden aus dem »Loch« in Zürich vor, dessen sich Waser gar wohl erinnerte als eines um ein paar Jahre ältern, ziemlich liederlichen Studiengesellen. »Dieser Mann hat seither in Bündnerdingen eine hervorragende Rolle gespielt«, behauptete Jürg und schlug dem Kleinen auf die Schulter.
Der Kapuziner schien mit beiden Pfarrern auf bekanntem Fuße zu stehen und Fausch fuhr, diesmal an Waser sich wendend, in seiner aufgeregten Rede fort:
»Glaubst du's wohl, Herr Zürcher? Während du in deiner löblichen Stadt sittsam zur Predigt gehst und über das Gesangbuch hinweg züchtig nach deinem Jungfräulein ausschaust, betrete ich armer Streiter Gottes niemals die Kanzel ohne fröstelnd den Rücken einzuziehen, aus Furcht es fahre mir das Messer oder die Kugel eines meiner Pfarrkinder zwischen die Schultern! – Aber«, sagte er, nachdem er mit den Männern in die Stube getreten, »nun bin ich auch zum längsten Pfarrer gewesen. Dies Erlebnis«, er zeigte auf das Loch in seinem Filze, »gibt den Ausschlag. Das Maß ist voll. Ich habe von meiner Muhme in Parpan zweihundert Goldgulden geerbt, gerade genug um ein sicheres Gewerbe zu beginnen. – Herunter mit dem Pfarrock!« und er legte Hand an sein geistliches Kleid.
»Warte, Freund!« rief Jenatsch, »das verrichten wir zusammen. Auch mein Maß ist heute voll geworden! Nicht eine feindliche Kugel verjagt mich von der Kanzel, sondern eine freundliche Rede. Der Herzog Heinrich hat recht«, wandte er sich an den erstaunten Waser, »Schwert und Bibel taugen nicht zusammen. Bünden bedarf des Schwertes und ich lege die geistliche Waffe zur Seite, um getrost die weltliche zu ergreifen.« Mit diesen Worten riß er sein Predigergewand ab, langte seinen Raufdegen von der Wand herunter und gürtete sich ihn um den knappen Lederkoller.
»Potz Velten, ihr gebt ein lustiges Beispiel«, rief der Kapuziner mit schallendem Gelächter. »Fast gelüstet mich, es euch nachzutun! Aber meine braune Kutte ist leider zu zäh und hat ein fester Gewebe als eure Röcklein, ehrwürdige Herren!«
Blasius Alexander, der diesem Vorgange ohne Verwunderung aber mißbilligend zuschaute, faltete jetzt die Hände und sprach feierlich: »Ich aber gedenke zu verharren im Amte bis ans Ende usque ad martyrium, bis in den Martertod, zu welcher Ehre Gott mir helfe!«
»Kein schönrer Tod ist in der Welt,
Als wer vorm Feind hinscheidt ...«
sang Jenatsch mit flammenden Augen.
»Ich werde ein Zuckerbäcker«, erklärte Fausch wichtig, »ein bißchen Weinhandel daneben ist selbstverständlich.« Damit setzte er sich an den Tisch, schnallte eine kleine Geldkatze ab, die er um den Leib trug, und begann die Goldstücke, eifrig rechnend, in Häuflein zu ordnen.
Jürg Jenatsch aber umschlang die eben eintretende Lucia und küßte sie mit überströmender Zärtlichkeit: »Sei getrost, mein Herz, und freue dich! Eben hat dein Georg den schwarzen geistlichen Rock abgeworfen, der dich mit den Deinen verfeindet hat. Wir ziehn hier weg, es wird dir wohl ergehn und du erlebst an deinem Manne Ehre die Fülle.«
Lucia errötete vor Freude und blickte mit seliger Bewunderung in Jürgs übermütiges Angesicht, aus dem eine wilde Freude sprühte.
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