»Ihr könnt also, obgleich wir uns auf diesem Boden treffen und trotz Eurer dunkeln Augen kein Italiener sein. Da seid Ihr wohl ein Sohn der nahen Rhätia, und so will ich Euch denn bitten, mir von den Gebirgszügen, die ich gestern, den Splügen überschreitend, durchschnitt und die ich zum Teil noch vor mir sehe, einen klaren Begriff zu geben. Meine Karte läßt mich im Stich. Setzt Euch neben mich.«[399]
Jenatsch betrachtete begierig die vorzügliche Etappenkarte und fand sich schnell zurecht. Er entwarf dem Herzog mit wenigen scharfen Zügen ein Bild der geographischen Lage seiner Heimat und ordnete ihr Tälergewirr nach den darin entspringenden und nach drei verschiedenen Meeren sich wendenden Strömen. Dann sprach er von den zahlreichen Bergübergängen und hob, sich erwärmend, mit Vorliebe und überraschender Sachkenntnis deren militärische Bedeutung hervor.
Der Herzog war mit sichtlichem Wohlgefallen und steigendem Interesse der raschen Auseinandersetzung gefolgt, jetzt aber erhob er sein mildes, durchdringendes Auge zu dem neben ihm stehenden Bündner und ließ es nachdenklich auf ihm ruhen.
»Ich bin ein Kriegsmann und rühme mich dessen«, sagte er, »aber es gibt Augenblicke, wo ich diejenigen glücklich preise, die dem Volke predigen dürfen: ›Selig sind die Friedfertigen.‹ Heutzutage darf nicht mehr dieselbe Hand das Schwert des Apostels und das Schwert des Feldherrn führen. Wir sind im Neuen Bunde, Herr Pastor, nicht mehr im Alten der Helden und Propheten. Die Doppelrollen eines Samuel und Gideon sind ausgespielt. Heute warte jeder in Treue des eignen Amtes. Ich achte es für ein schweres Unglück«, hier seufzte er, »daß in meinem Frankreich die evangelischen Geistlichen durch ihren Eifer sich hinreißen ließen, die Gemüter zum Bürgerkriege zu erhitzen. Sache des Staatsmannes ist es, die bürgerlichen Rechte der evangelischen Gemeinden zu sichern, Sache des Soldaten, sie zu verteidigen. Der Geistliche hüte die Seelen, anders richtet er Unheil an.«
Der junge Bündner errötete unmutig und blieb die Antwort schuldig.
In diesem Augenblicke erschien der Page mit der ehrerbietigen Meldung, die Reisebarke des Herzogs sei zur Abfahrt bereit, und Rohan beurlaubte die Freunde mit einer gütigen Handbewegung.
Auf dem Heimritte erging sich Waser in Betrachtungen über die politische Rolle des Herzogs, der gerade damals seinen protestantischen Mitbürgern in heimischer Fehde einen ehrenhaften Frieden erkämpft hatte. Er meinte, freilich werde derselbe von kurzer Dauer sein und fand Gefallen daran, die Lage Rohans und der französischen Reformierten seinem Freunde mit den dunkelsten[400] Farben zu malen. Er schien etwas empfindlich und verdüstert, daß seine Person vor dem Herzog neben Jürg sehr zurückgetreten, ja gänzlich verschwunden war. – Seit Heinrich IV., behauptete er, setze sich die französische Politik zum Ziele, die Protestanten in Deutschland gegen Kaiser und Reich zu schützen, den Reformierten im eigenen Lande dagegen den Lebensnerv zu durchschneiden. Sie trachte, durch Wiederherstellung der staatlichen Einheit Kraft zum Vorstoß nach außen zu gewinnen. Es ergebe sich daraus das seltsame Verhältnis, daß die französischen Protestanten unterliegen müßten, damit den deutschen die diplomatische und militärische Hilfe Frankreichs, deren sie höchlich bedürften, gesichert bleibe. – So schwebe über dem Herzog trotz der Hoheit seiner Stellung und seines Charakters das traurige Verhängnis, seine Kraft in unheilbaren Konflikten aufzureiben und am Hofe von Frankreich immer mehr den Boden zu verlieren. Jetzt bringe er wohl Weib und Kind nach Venedig, um bei dem nächstens neu ausbrechenden Sturme freiere Hand zu haben.
»Du bist ja ein durchtriebener Diplomat geworden!« lachte Jenatsch. »Aber findest du es nicht in dieser Ebene entsetzlich schwül? Dort steht eine Scheuer ... wie wär's, wenn wir unsere Tiere eine Weile im Schatten anbänden und du dein weises Haupt ins Heu legtest?«
Waser war einverstanden und in kurzer Frist hatten sich beide auf das duftige Lager ausgestreckt und waren entschlummert.
Als der junge Zürcher erwachte, stand Jenatsch vor ihm, mit spöttischen Blicken ihn betrachtend. »Ei, Schatz, was schneidest du denn im Schlafe für verklärte Gesichter?« sagte er. »Heraus mit der Sprache! Was hast du geträumt? Von deinem Liebchen?«
»Von meiner innig verehrten Braut, willst du sagen. Das wäre nichts Ungewöhnliches; aber ich hatte in der Tat einen wunderbaren Traum ...«
»Jetzt weiß ich's ... Dir träumte, du seiest Bürgermeister von Zürich!«
»So war es ... merkwürdigerweise!« sagte Waser sich sammelnd. »Ich saß in der Ratsstube und hielt Vortrag über Bündnerdinge – über die Bedeutung der Feste Fuentes. Als ich geendet, wandte sich das nächstsitzende Ratsglied gegen mich mit den Worten: ›Ich bin ganz der Meinung Seiner Gestrengen des Herrn[401] Bürgermeisters.‹ Ich sah mich nach diesem um; aber siehe, ich saß selbst auf seinem Stuhle und trug seine Kette.«
»Auch mir hat geträumt«, sagte Jenatsch, »und recht seltsam. Du weißt, oder weißt nicht, daß in Chur ein ungarischer Astrolog und Nekromant sein Wesen treibt. Mit diesem Gelehrten hab ich mich während der letzten langwierigen Synode nächtlicherweile eingelassen, um zu sehen, was an der Sache sei.«
»Um Himmels willen, Astrologia! ...
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