Er troff von Blut und seine übermenschliche Tapferkeit wurde zur Legende. So erschlug er Hunderte von Österreichern, meldet die Sage, bei Klosters in offener Feldschlacht, er allein mit drei Genossen.
Die heldenmütigen Bündner wurden von der Übermacht erdrückt. Waser sah eines nach dem andern ihrer flüchtigen Häupter in Zürich anlangen. Es kam ein Salis, ein Ruinell, ein Violand – Jürg Jenatsch kam nicht. Wohl mochte es ihm schwer werden, das Bollwerk seiner Berge zu verlassen.
Furcht vor dem übermächtigen Österreich lähmte diesmal die Gastfreundschaft der Stadt Zürich, die sie sonst keinem Vertriebenen versagt. Beim Pokale auf den Zünften hatte die junge Bürgerschaft den bündnerischen Tellen, so nannte man die Mörder des Herrn Pompejus Planta, stürmisch zugejauchzt, jetzt aber streckten sich den Flüchtigen nur wenige Hände entgegen. Man ersuchte sie, sich stille in den Häusern zu halten, damit in Wien ihre Anwesenheit geleugnet werden könne. Die Geister waren von dunklen Ahnungen erschreckt, dreißig kommende Kriegsjahre warfen ihren Schatten vor sich her.
An einem Winterabend verließ Waser ernster als gewöhnlich und in tief bewegter Stimmung das Haus seiner jungen Braut, die er nächstens heimführen sollte und in deren angesehener Familie er das Nachtessen einzunehmen pflegte. Hier ließ er sonst die Staatssorgen vor der Tür und freute sich in Züchten des Lebens; heute aber quoll ihm der Bissen im Munde. Sein Schwager, ein junger Geistlicher, hatte aus der eben versammelten Synode eine ergreifende Nachricht nach Hause gebracht. Von Seiner Hochwürden dem Antistes war ein Schreiben verlesen worden mit der Nachricht von dem standhaften Ende des Märtyrers Blasius Alexander. Da wurde ausführlich von einem seiner Kerkergenossen erzählt, wie man ihn auf der Flucht ergriffen und nach Innsbruck gebracht habe; wie er sich in der Gefangenschaft unerschütterlich[419] geweigert, den reformierten Glauben abzuschwören, und wie er schließlich zum Verluste der rechten Hand und des Hauptes verurteilt wurde. Da seine Rechte abgeschnitten auf dem Blocke lag, habe er bereitwillig auch die Linke ausgestreckt, als könne er sich des Martertums nicht ersättigen.
Um sein Gemüt zu beruhigen, machte Waser gegen seine Gewohnheit einen raschen Gang um die beschneiten Stadtmauern. Als er in seine dunkle Stube zurückkehrte und Feuer schlug, um seine Lampe anzuzünden, gewahrte er in der Fensternische eine hohe Gestalt, die ihm nun festen Schrittes entgegentrat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Es war Jürg Jenatsch.
»Erschrick mir nicht, Heinrich«, sagte er sanft, »ich komme nur für eine Nacht und verlasse eure Mauern, sobald in der Frühe ein Tor aufgeht. Hast du Platz für mich in deinem Kämmerlein, wie ehedem? ... Du schwankst, ob du mir die Hand drücken willst ... sie hat gerecht gerichtet ... Doch jetzt ist in Bünden nichts mehr zu tun. Da ist alles verloren – wer weiß für wie lange. Ich gehe zum Mansfeld. Dort auf dem großen deutschen Kampfplatze entscheidet sich mit Sieg oder Niederlage der protestantischen Waffen auch das Los meiner Heimat.« –[420]
Zweites Buch
Lucretia
Erstes Kapitel
Ein durchsichtig blauer Winterhimmel umfing die Lagunenstadt und schaute sich mit gleicher Kraft und Helle tief aus dem Spiegel eines ihrer vielen schmalen Wasserbänder wieder entgegen. Hier zeigten die stillen Wasser auch das scharfe, dunkle Ebenbild einer schlank gewölbten Marmorbrücke, die das engste und bewohnteste Quartier Venedigs mit dem Campo dei Frari verbindet. Dieser kleine Platz bildet den spärlichen Vorraum zu dem fremdartig erhabenen Meisterbau Niccolò Pisanos, dem rotschimmernden Dome der Maria gloriosa de' Frari.
In der engen Pforte eines an die Lagune gebauten Hauses jenseits der Brücke stand ein Mann von mittleren Jahren mit einem ernsten bärtigen Kopfe und von gedrungener, kurzer Gestalt. Sein Blick folgte ruhig den lautlos geführten, von Zeit zu Zeit unter dem Brückenbogen durchgleitenden Gondeln, oder betrachtete die Bettler, welche auf den Stufen des Domes lagerten und eben ihr Frühstück verzehrten. Ihm zu Häupten war an der Mauer, dem Halbrunde der Türwölbung folgend, in kolossalen schwarzen Lettern und italienischer Sprache zu lesen: Lorenz Fausch, Pastetenbäcker aus Bünden.
Aus den herrschaftlichen Gondeln, die an der Landungstreppe des Campo anlegten, war schon manche zarte Dame gestiegen; manche zierliche Gestalt, umhüllt von den weichen Falten dunkler Seide und das Antlitz durch die sammetne Halbmaske vor der Kälte geschützt, war die Stufen hinauf über den Platz in die Kirche geglitten, ohne daß die Züge des Bündners sich im mindesten verändert hätten. Jetzt aber ging etwas Seltsames auf dem ernsthaft gleichmütigen Gesichte vor. Unter der Brücke war der wetterbraune, weißbärtige Kopf eines Ruderers zum Vorschein gekommen, der, aus seinen ungelenken Bewegungen zu schließen, mit der Lagune nicht vertraut war. Während sein Gefährte, der auf dem Hinterteile des Fahrzeuges stand, ein jugendlich behender, ein echter Gondoliere, dieses mit schlanker Ruderbewegung an die Mauer drückte, öffnete der Alte langsam die niedrige Gondeltüre und schickte sich an, einer nur leicht verschleierten, offen und groß blickenden Frau beim Aussteigen[421] behilflich zu sein. Sie aber hatte seine Hand nicht angenommen.
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