Seine Tage waren aus lauter Nichts zusammengesetzt, dem er durch seine Rührigkeit eine Bedeutung zu geben wußte, und er konnte um so mehr viele Stunden verschlendern, als die Zeit die er zum Lesen anwendete, ihm, bei einem glücklichen Gedächtnis, immer viel Frucht brachte, und seine originelle Denkweise mit mannigfaltigem Stoff bereicherte.

Man hatte ihn mit livländischen Kavalieren nach Straßburg gesendet, und einen Mentor nicht leicht unglücklicher wählen können. Der ältere Baron ging für einige Zeit ins Vaterland zurück, und hinterließ eine Geliebte, an die er fest geknüpft war. Lenz, um den zweiten Bruder, der auch um dieses Frauenzimmer warb, und andere Liebhaber zurückzudrängen, und das kostbare Herz seinem abwesenden Freunde zu erhalten, beschloß nun selbst sich in die Schöne verliebt zu stellen, oder, wenn man will, zu verlieben. Er setzte diese seine These mit der hartnäckigsten Anhänglichkeit an das Ideal, das er sich von ihr gemacht hatte, durch, ohne gewahr werden zu wollen, daß er so gut als die übrigen ihr nur zum Scherz und zur Unterhaltung diene. Desto besser für ihn! denn bei ihm war es auch nur Spiel, welches desto länger dauern konnte als sie es ihm gleichfalls spielend erwiderte, ihn bald anzog, bald abstieß, bald hervorrief, bald hintansetzte. Man sei überzeugt, daß wenn er zum Bewußtsein kam, wie ihm denn das zuweilen zu geschehen pflegte, er sich zu einem solchen Fund recht behaglich Glück gewünscht habe.

Übrigens lebte er, wie seine Zöglinge, meistens mit Offizieren der Garnison, wobei ihm die wundersamen Anschauungen, die er später in dem Lustspiel »Die Soldaten« aufstellte, mögen geworden sein. Indessen hatte diese frühe Bekanntschaft mit dem Militär die eigene Folge für ihn, daß er sich für einen großen Kenner des Waffenwesens hielt; auch hatte er wirklich dieses Fach nach und nach so im Detail studiert, daß er, einige Jahre später, ein großes Memoire an den französischen Kriegsminister aufsetzte, wovon er sich den besten Erfolg versprach. Die Gebrechen jenes Zustandes waren ziemlich gut gesehn, die Heilmittel dagegen lächerlich und unausführbar. Er aber hielt sich überzeugt, daß er dadurch bei Hofe großen Einfluß gewinnen könne, und wußte es den Freunden schlechten Dank, die ihn, teils durch Gründe, teils durch tätigen Wider-stand, abhielten, dieses phantastische Werk, das schon sauber abgeschrieben, mit einem Briefe begleitet, kuvertiert und förmlich adressiert war, zurückzuhalten, und in der Folge zu verbrennen.

Mündlich und nachher schriftlich hatte er mir die sämtlichen Irrgänge seiner Kreuz- und Querbewegungen, in bezug auf jenes Frauenzimmer vertraut. Die Poesie die er in das Gemeinste zu legen wußte, setzte mich oft in Erstaunen, so daß ich ihn dringend bat, den Kern dieses weitschweifigen Abenteuers geistreich zu befruchten, und einen kleinen Roman daraus zu bilden; aber es war nicht seine Sache, ihm konnte nicht wohl werden, als wenn er sich grenzenlos im einzelnen verfloß und sich an einem unendlichen Faden ohne Absicht hinspann. Vielleicht wird es dereinst möglich, nach diesen Prämissen, seinen Lebensgang, bis zu der Zeit da er sich in Wahnsinn verlor, auf irgend eine Weise anschaulich zu machen; gegenwärtig halte ich mich an das nächste, was eigentlich hierher gehört.

Kaum war »Goetz von Berlichingen« erschienen, als mir Lenz einen weitläuftigen Aufsatz zusendete, auf geringes Konzeptpapier geschrieben, dessen er sich gewöhnlich bediente, ohne den mindesten Rand weder oben noch unten, noch an den Seiten zu lassen. Diese Blätter waren betitelt:»Über unsere Ehe«, und sie würden, wären sie noch vorhanden, uns gegenwärtig mehr aufklären als mich damals, da ich über ihn und sein Wesen noch sehr im dunkeln schwebte. Das Hauptabsehen dieser weitläuftigen Schrift war, mein Talent und das seinige neben einander zu stellen; bald schien er sich mir zu subordinieren, bald sich mir gleich zu setzen; das alles aber geschah mit so humoristischen und zierlichen Wendungen, daß ich die Ansicht, die er mir dadurch geben wollte, um so lieber aufnahm, als ich seine Gaben wirklich sehr hoch schätzte und immer nur darauf drang, das er aus dem formlosen Schweifen sich zusammenziehen, und die Bildungsgabe, die ihm angeboren war, mit kunstgemäßer Fassung benutzen möchte. Ich erwiderte sein Vertrauen freundlichst, und weil er in seinen Blättern auf die innigste Verbindung drang (wie denn auch schon der wunderliche Titel andeutete), so teilte ich ihm von nun an alles mit, sowohl das schon Gearbeitete als was ich vorhatte; er sendete mir dagegen nach und nach seine Manuskripte, den »Hofmeister«, den »Neuen menoza«, die Soldaten«, Nachbildungen des Plautus, und jene Übersetzung des englischen Stücks als Zugabe zu den »Anmerkungen über das Theater«.

Bei diesen war es mir einigermaßen auffallend, daß er in einem lakonischen Vorberichte sich dahin äußerte, als sei der Inhalt dieses Aufsatzes, der mit Heftigkeit gegen das regelmäßige Theater gerichtet war, schon vor einigen Jahren, als Vorlesung, einer Gesellschaft von Literaturfreunden bekannt geworden, zu der Zeit also, wo »Goetz« noch nicht geschrieben gewesen. In Lenzens Straßburger Verhältnissen schien ein literarischer Zirkel den ich nicht kennen sollte, etwas problematisch; allein ich ließ es hingehen, und verschaffte ihm zu dieser wie zu seinen übrigen Schriften bald Verleger, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, daß er mich zum vorzüglichsten Gegenstande seines imaginären Hasses, und zum Ziel einer abenteuerlichen und grillenhaften Verfolgung ausersehn hatte.

[Teil III, Buch 14]

Lenz

by Georg Büchner

 

THE 20TH, Lenz walked through the mountains. Snow on the peaks and upper slopes, gray rock down into the valleys, swatches of green, boulders, and firs. It was sopping cold, the water trickled down the rocks and leapt across the path. The fir boughs sagged in the damp air. Gray clouds drifted across the sky, but everything so stifling, and then the fog floated up and crept heavy and damp through the bushes, so sluggish, so clumsy. He walked onward, caring little one way or another, to him the path mattered not, now up, now down. He felt no fatigue, except sometimes it annoyed him that he could not walk on his head. At first he felt a tightening in his chest when the rocks skittered away, the gray woods below him shook, and the fog now engulfed the shapes, now half-revealed their powerful limbs; things were building up inside him, he was searching for something, as if for lost dreams, but was finding nothing. Everything seemed so small, so near, so wet, he would have liked to set the earth down behind an oven, he could not grasp why it took so much time to clamber down a slope, to reach a distant point; he was convinced he could cover it all with a pair of strides. Only sometimes when the storms tossed the clouds into the valleys and they floated upwards through the woods and voices awakened on the rocks, like far-echoing thunder at first and then approaching in strong gusts, sounding as if they wanted to chant the praises of the earth in their wild rejoicing, and the clouds galloped by like wild whinnying horses and the sunshine shot through them and emerged and drew its glinting sword on the snowfields so that a bright blinding light knifed over the peaks into the valleys; or sometimes when the storms drove the clouds downwards and tore a light-blue lake into them and the sound of the wind died away and then like the murmur of a lullaby or pealing bells rose up again from the depths of ravines and tips of fir trees and a faint reddishness climbed into the deep blue and small clouds drifted by on silver wings and all the mountain peaks, sharp and firm, glinted and gleamed far across the countryside, he would feel something tearing at his chest, he would stand there, gasping, body bent forward, eyes and mouth open wide, he was convinced he should draw the storm into himself, contain everything within himself, he stretched out and lay over the earth, he burrowed into the universe, it was a pleasure that gave him pain; or he would remain still and lay his head upon the moss and half-close his eyes and then everything receded from him, the earth withdrew beneath him, it became as tiny as a wandering star and dipped into a rushing stream whose clear waters flowed beneath him. But these were only moments, and then he got up, calm, steady, quiet, as if a shadow play had passed before him, he had no memory of anything. Toward evening he came to the mountain ridge, to the snowfield from which one again descended westwards into the plain, he sat down at the crest. Things had grown more quiet toward evening; the clouds lay still and solid in the sky, as far as the eye could see, nothing but peaks, broad downward slopes, and everything so silent, gray, twilit; a terrible solitude came over him, he was alone, all alone, he wanted to talk to himself, but he could not, he hardly dared breathe, the crunch of his foot sounded like thunder beneath him, he had to sit down; he was seized by a nameless anxiety in this emptiness, he was in a void, he sprang to his feet and raced down the slope. It had gotten dark, sky and earth melted together. It was as if something were following him, as if something terrible would overtake him, something no human could bear, as if madness were hunting him down on horseback. At last he heard voices, he saw lights, he breathed easier, he was told Waldbach lay half an hour away.