Die Umstehenden keuchten. Die Räder waren schon so tief eingesunken, daß Madeleine kaum mehr unter dem Wagen hervorkonnte.

Plötzlich ging ein Zittern durch die gewaltige Masse der Ladung, langsam wurde der Wagen gehoben, und die Räder lösten sich halb vom Boden. Eine stöhnende Stimme rief: »Macht rasch!« Und alle stürzten herzu. Die Hingabe des einen hatte alle ermutigt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.

Madeleine stand auf. Er war blaß und schweißüberströmt. Seine Kleider waren zerfetzt und kotbedeckt. Alle waren zu Tränen gerührt. Der Greis umfing seine Knie und nannte ihn seinen lieben Gott. In Madeleines Antlitz war ein Ausdruck von himmlischem, beseligtem Weh, während er ruhig Javerts Blick erwiderte.

Fauchelevent wird Gärtner in Paris

Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturz das eine Bein verrenkt. Vater Madeleine ließ ihn in das Spital bringen, das er in dem Fabrikgebäude für seine Arbeiter eingerichtet hatte und in dem zwei barmherzige Schwestern beschäftigt waren. Am nächsten Morgen fand der Alte einen Tausendfrankenschein auf seinem Nachtschrank und dabei einen Zettel, auf den Madeleine geschrieben hatte:

»Ich kaufe Ihren Wagen und Ihr Pferd.«

Der Wagen war zerbrochen, das Pferd tot. Fauchelevent wurde gesund, eins seiner Beine aber blieb gelähmt. Madeleine verschaffte ihm durch Vermittlung der barmherzigen Schwestern und des Pfarrers eine Anstellung als Gärtner im Nonnenkloster zu Saint-Antoine in Paris.

Kurze Zeit nachher wurde Madeleine Bürgermeister. Als Javert ihm zum erstenmal mit der Schärpe, die seine Würde kennzeichnete, auf der Straße begegnete, zuckte er zusammen wie eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wittert. Seither mied er es nach Möglichkeit, ihm zu begegnen. Wenn ihn seine dienstlichen Obliegenheiten zwangen, beim Bürgermeister vorzusprechen, so benahm er sich ehrfurchtsvoll.

So lagen die Verhältnisse, als Fantine in ihre Heimatstadt zurückkehrte. Niemand erkannte sie wieder. Das Tor der Madeleineschen Fabrik war ihr wie ein freundliches Antlitz. Sie meldete sich und wurde in die Werkstätte der Frauen aufgenommen. Die Arbeit war Fantine neu, sie ging ihr nicht leicht von der Hand, und darum verdiente sie nicht allzuviel, aber genug, um ihr Leben zu fristen.

Frau Victurnien gibt fünfunddreißig Franken für die Moral aus

Als Fantine sah, daß sie auskommen konnte, war sie glücklich. Die Lust zur Arbeit erwachte. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich zu sehen, daß sie jung war, daß ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne gefallen konnten, vergaß vieles, dachte nur mehr an ihre Cosette und an die Zukunft; es fehlte nicht viel, und sie war glücklich. Sie mietete ein kleines Zimmer und kaufte auf Kredit Möbel: Rückfall in unordentliche alte Angewöhnungen.

Da sie nicht sagen konnte, sie sei verheiratet, hatte sie sich wohl gehütet, von ihrem Töchterchen zu sprechen. Doch zahlte sie wenigstens zu Anfang pünktlich ihre Schuld an Thénardier. Da sie nicht schreiben konnte, mußte sie sich eines öffentlichen Schreibers bedienen. Sie schrieb oft, und das fiel auf. In den Werkstätten der Frauen wurde geflüstert, Fantine schreibe Briefe und sie wolle sich wohl groß aufspielen.

Und unter ihren Freundinnen war nicht nur eine, die sie um ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne beneidet hätte.

Sie brachten heraus, daß sie mindestens zweimal monatlich immer an die gleiche Adresse schrieb. Es gelang ihnen, diese Adresse zu erfahren.