Jetzt hörte er dieselben Stimmen ganz in der Nähe, und bald bemerkte er welchen Inhaltes ihre eintönigen Sätze waren. Es gehörte nämlich in den guten alten Zeiten, besonders in Reichsstädten zum Ton, daß der Hausvater und seine Frau, wenn sie Gäste geladen hatten, gegen die Mitte der Tafel aufstanden, und bei jedem einzelnen umhergingen, mit einem herkömmlichen Sprüchlein zum Essen und Trinken zu nötigen.

Diese Sitte war in Ulm so stehend geworden, daß der Hohe Rat beschloß, auch an diesem Mahl keine Ausnahme zu machen, sondern ex officio einen Hausvater samt Hausfrau aufzustellen, um diese Pflicht zu üben. Die Wahl fiel auf den Bürgermeister und den ältesten Ratsherrn.

Sie hatten schon zwei Seiten der Tafel »nötigend« umgangen, kein Wunder, daß ihre Stimmen durch die große Anstrengung endlich rauh und heiser geworden waren, und ihre freundschaftliche Aufmunterung wie Drohung klang. Eine rauhe Stimme tönte in Georgs Ohr: »Warum esset Ihr denn nicht, warum trinket Ihr denn nicht?« Erschrocken wandte sich der Gefragte um, und sah einen starken, großen Mann mit rotem Gesicht – ehe er noch auf die schrecklichen Töne antworten konnte, begann an seiner andern Seite ein kleiner Mann mit einer hohen dünnen Stimme:

 

»So esset doch und trinket satt

was der Magistrat Euch vorgesetzt hat.«

 

»Hab ich's doch schon lange gedacht, daß es so kommen würde«, fiel der alte Breitenstein ein, indem er ein wenig von der Anstrengung, mit welcher er den Rehziemer bearbeitet hatte, ausruhte.

»Da sitzt er und schwatzt, statt die köstlichen Braten zu genießen, die uns die Herren in so reichlicher Fülle vorgesetzt haben.«

»Mit Verlaub«, unterbrach ihn Dieterich von Kraft, »der junge Herr ißt nichts, er ist ein Zechbruder und trefflicher Weinschmecker; hab ich's nicht gleich weggehabt, daß er gerne zu tief ins Glas guckt? Darum tadle ihn keiner, wenn er sich lieber an den Uhlbacher hält.«

Georg wußte gar nicht wie er zu dieser sonderbaren Schutzrede kam; er war im Begriff sich zu entschuldigen, als ihn ein neuer Anblick überraschte. Breitenstein hatte sich jetzt über den Schweinskopf mit der Zitrone im Maul, erbarmt, hatte die Zitrone geschickt aus dem Rachen des Tieres operiert, und begann mit großem Behagen und geübter Hand die weitere Sektion vorzunehmen, da trat der Bürgermeister auch zu ihm, und eben als er an einem guten Bissen kaute, hub er an: »Warum esset Ihr denn nicht, warum trinket Ihr denn nicht?« Dieser sah den Nötigenden mit starren Blicken an, zum Reden hatten seine Sprachorgane keine Zeit. Er nickte daher mit dem Haupte und deutete auf die Reste des Rehziemers; der kleine Mann mit der Fistelstimme ließ sich aber nicht irremachen, sondern sprach freundschaftlichst:

 

»So esset doch und trinket satt

was der Magistrat Euch vorgesetzt hat.«

 

So war es nun in den »guten alten Zeiten«! Man konnte sich wenigstens nicht beklagen, nur zu einem Schauessen geladen worden zu sein. Bald aber bekam die Tafel eine andere Gestalt. Die großen Schüsseln und Platten wurden abgetragen und geräumigere Humpen, größere Kannen, gefüllt mit edlem Weine, aufgesetzt. Die Umtränke und das in Schwaben schon damals sehr häufige Zutrinken begann, und nicht lange, so äußerte auch der Wein seine Wirkungen. Dieterich Spät und seine Gesellen sangen Spottlieder auf Herzog Ulerich und bekräftigten jeden Fluch oder schlechten Witz, den einer ausbrachte mit Gelächter oder einem guten Trunke. Die fränkischen Ritter würfelten um die Güter des Herzogs und tranken einander das Tübinger Schloß im Weine ab. Ulerich von Hutten und einige seiner Freunde hielten in lateinischer Sprache eine laute Kontrovers mit einigen Italienern wegen des Angriffes auf den römischen Stuhl, den kurz zuvor ein unberühmter Mönch in Wittenberg unternommen hatte; die Nürnberger, Augsburger und einige Ulmer Herren, die sich zusammengetan hatten, waren über den Glanz ihrer Republiken in Streit geraten, und so füllte Gelächter, Gesang, Zanken und der dumpfe Klang der silbernen und zinnernen Becher, den Saal.

Nur am oberen Ende der Tafel herrschte anständigere, ruhigere Fröhlichkeit. Dort saß Georg von Frondsberg, der alte Ludwig Hutten, Waldburg Truchseß, Franz von Sickingen und noch andere ältliche, gesetzte Herren.

Dorthin wandte jetzt auch der Bundeshauptmann Hans von Breitenstein, nachdem er sich genugsam gesättiget hatte, seine Blicke und sprach zu Georg: »Das Lärmen um uns her will mir gar nicht behagen, wie wäre es, wenn ich Euch jetzt dem Frondsberger vorstellte, wie Ihr in den letzten Tagen gewünscht habt?«

Georg, dessen Wunsch schon lange war, dem Kriegsobersten bekannt zu werden, stand freudig auf, um dem alten Freunde zu folgen. Wir werden ihn nicht tadeln, daß sein Herz bei diesem Gange ängstlicher pochte, seine Wangen sich höher färbten, seine Schritte je näher er kam, ungewisser und zögernder wurden. Wen haben nicht in seiner Jugend, wenn er einem glänzenden, ruhmbekränzten Vorbild nahte, ähnliche Gefühle bestürmt? Wem sank da nicht sein eigenes Ich zur Unbedeutendheit zusammen, während der Gefeierte zum Riesen wuchs. Georg von Frondsberg galt schon damals für einen der berühmtesten Feldherren seiner Zeit. Italien, Frankreich und Teutschland erzählten von seinen Siegen, und die Kriegskunst wird ihn ewig in ihren Annalen nennen, denn er war der Stifter und Gründer eines geordneten, in Reihen und Gliedern fechtenden Fußvolkes. Sagen und Chroniken erhielten das Bild dieses Helden bis auf unsere Tage, und wer gedenkt nicht unwillkürlich jener homerischen Helden wenn er von diesem Manne liest: »Er war so stark an Gliedern, wenn er den Mittelfinger der rechten Hand ausstreckte, daß er damit den stärksten Mann, so sich steif stellte, vom Platz stoßen, ein rennendes Pferd beim Zaum ergreifen und stellen, die großen Büchsen und Mauerbrecher allein von einem Ort zum andern führen konnte?« Zu ihm führte Breitenstein den Jüngling.

»Wen bringt Ihr uns da, Hans?« rief Georg von Frondsberg, indem er den hochgewachsenen, schönen, jungen Mann mit Teilnahme betrachtete.

»Seht ihn Euch einmal recht an, werter Herr«, antwortete Breitenstein, »ob Euch nicht beifällt, in welches Haus er gehören mag?«

Aufmerksamer betrachtete ihn der Feldhauptmann, auch der alte Truchseß von Waldburg wandte prüfend sein Auge herüber. Georg war schüchtern und blöde vor diese Männer getreten; aber sei es, daß die freundliche, zutrauliche Weise Frondsbergs ihm Mut machte, sei es, daß er fühlte, wie wichtig der Augenblick für ihn sei, er bekämpfte die Scham den Blicken so vieler berühmter Männer ausgesetzt zu sein, und sah ihnen entschlossen und mutig ins Gesicht.

»Jetzt, an diesem Blick erkenne ich dich«, sagte Frondsberg und bot ihm die Hand, »du bist ein Sturmfeder?«

»Georg Sturmfeder«, antwortete der junge Mann, »mein Vater war Burkhardt Sturmfeder, er fiel, wie man mir sagte, in Italien an Eurer Seite.«

»Er war ein tapferer Mann«, sprach der Feldhauptmann, dessen Auge immer noch sinnend auf Georgs Zügen ruhte, »an manchem warmen Schlachttag hat er treu zu mir gehalten, wahrlich sie haben ihn allzufrühe eingescharrt! Und du«, setzte er freundlicher hinzu, »du hast dich eingestellt, um seiner Spur zu folgen? Was treibt dich schon so frühe aus dem Neste und bist kaum flick?«

»Ich weiß schon«, unterbrach ihn Waldburg mit rauher, unangenehmer Stimme; »das Vögelein will sich ein paar Flöckchen Wolle suchen, um das alte Nest zu flicken!«

Diese rohe Anspielung auf die verfallene Burg seiner Ahnen jagte eine hohe Glut auf die Wangen des Jünglings. Er hatte sich nie seiner Dürftigkeit geschämt, aber dieses Wort klang so höhnend, daß er sich zum ersten Male dem reichen Spötter gegenüber recht arm fühlte. Da fiel sein Blick über Truchseß Waldburg hin durch die Scheiben auf jenes wohlbekannte Erkerfenster; er glaubte Mariens Gestalt zu erblicken und sein alter Mut kehrte wieder. »Ein jeder Kampf hat seinen Preis, Herr Ritter«, sagte er, »ich habe dem Bund Kopf und Arm angetragen; was mich dazu treibt, kann Euch gleichgültig sein.«

»Nun, nun!« erwiderte jener, »wie es mit dem Arm aussieht, werden wir sehen, im Kopfe muß es aber nicht so ganz hell sein, da Ihr aus Spaß gleich Ernst macht.«

Der gereizte Jüngling wollte wieder etwas darauf erwidern, Frondsberg aber nahm ihn freundlich bei der Hand: »Ganz wie dein Vater, lieber Junge, nun du willst zeitlich zu einer Nessel werden.13 Und wir werden Leute brauchen, denen das Herz am rechten Flecke sitzt. Daß du dann nicht der letzte bist, darfst du gewiß sein.«

Diese wenigen Worte aus dem Munde eines durch Tapferkeit und Kriegskunst unter seinen Zeitgenossen hochberühmten Mannes, übten so besänftigende Gewalt über Georg, daß er die Antwort, die ihm auf der Zunge schwebte, zurückdrängte, und sich schweigend von der Tafel in ein Fenster zurückzog, teils um die Obersten nicht weiter zu stören, teils um sich genauer zu überzeugen, ob die flüchtige Erscheinung, die er vorhin gesehen, wirklich Marie gewesen sei?

Als Georg die Tafel verlassen hatte, wandte sich Frondsberg zu Waldburg: »Das ist nicht die Art, Herr Truchseß, wie man tüchtige Gesellen für unsere Sache gewinnt, ich wette, er ging nicht mit halb soviel Eifer für die Sache von uns, als er zu uns brachte.«

»Müßt Ihr dem jungen Laffen auch noch das Wort reden?« fuhr jener auf, »was braucht es da? er soll einen Spaß von seinem Oberen ertragen lernen.«

»Mit Verlaub«, fiel ihm Breitenstein ins Wort, »das ist kein Spaß, sich über unverschuldete Armut lustig zu machen, ich weiß aber wohl, Ihr seid seinem Vater auch nie grün gewesen.«

»Und«, fuhr Frondsberg fort, »sein Oberer seid Ihr ganz und gar noch nicht. Er hat dem Bunde noch keinen Eid geleistet, also kann er noch immer hinreiten, wohin er will; und wenn er auch unter Euren eigenen Fahnen diente, so möchte ich Euch doch nicht raten, ihn zu hänseln, er sieht mir nicht darnach aus, als ob er sich viel gefallen ließe!«

Sprachlos vor Zorn über den Widerspruch, den er in seinem Leben nie ertragen konnte, blickte Truchseß den einen und den andern an, mit so wutvollen Blicken, daß sich Ludwig von Hutten schnell ins Mittel warf, um noch ärgeren Streit zu verhüten: »Laßt doch die alten Geschichten!« rief er. »Oberhaupt wäre es gut, wir heben die Tafel auf. Es dunkelt draußen schon stark und der Wein wird zu mächtig. Dieterich Spät hat schon zweimal des Württembergers Tod ausgebracht, und die Franken dort unten sind nur noch nicht einig, ob man seine Schlösser niederbrennen oder verteilen soll.«

»Laßt sie immer«, lachte Waldburg bitter, »die Herren dürfen ja heute machen was sie wollen, Frondsberg wird ihnen doch das Wort reden.«

»Nein«, antwortete Ludwig Hutten; »wenn einer von so etwas reden darf, bin ich es, als der Bluträcher meines Sohnes; aber ehe noch der Krieg erklärt ist, müssen solche Reden unterbleiben. Mein Vetter Ulerich spricht mir auch zu heftig mit den Italienern, über den Mönch von Wittenberg, und er verschwatzt sich zu sehr, wenn er in Zorn geratet. Laßt uns aufbrechen.«

Frondsberg und Sickingen stimmten ihm bei, sie standen auf, und als die nächsten um sie her ihrem Beispiel folgten, war der Aufbruch allgemein.

 

IV

 

Wollt ihr wissen was die Augen sein,

Womit ich sie sehe durch alle Land?

Es sind die Gedanken des Herzens mein,

Damit schau ich durch Mauer und Wand.

Walther von der Vogelweide

 

Georg hatte in dem Fenster, wohin er sich zurückgezogen, nicht so entfernt gestanden, daß er nicht jedes Wort der Streitenden gehört hätte. Er freute sich der warmen Teilnahme, mit welcher Frondsberg sich des unberühmten, verwaisten Jünglings angenommen hatte, zugleich aber konnte er es sich nicht verbergen, daß sein erster Schritt in die kriegerische Laufbahn ihm einen mächtigen, erbitterten Feind zugezogen hatte.