Alute erinnerte sich aufs bestimmteste, daß ihre Nichte ihr am Morgen nach dem Einbruch erzählt hatte, der Mann, den sie gesehen habe, sei aus der Klete gekommen, und Madlyne behauptete, daß sie so etwas nie gesagt haben könne, denn es wäre ja nicht die Wahrheit gewesen.

Miks Bumbullis beschrieb nun selber den Weg, den er genommen haben wollte. Er habe die unverschlossene Haustür geöffnet, habe sich in die Große Stube hineingetastet –

In der Großen Stube schlief Frau Alute! Sie hätte bei seinem Kommen erwachen müssen!

Sie sei eben nicht erwacht. Dann habe er sich in die Kleine Stube geschlichen, habe Wände und Winkel abgetastet und sei schließlich, als das Gewehr nirgends zu finden gewesen, zum Fenster hinausgeklettert.

Warum er nicht den bequemeren Rückweg durch Große Stube und Hausflur gewählt habe.

Frau Alute habe sich in ihrem Bett gerührt.

Das klang einigermaßen glaubhaft und stimmte mit Madlynens Aussage überein. Aber der Widerspruch zwischen dem, was sie ihrer Tante erzählt haben sollte, und ihrer beschworenen Aussage klaffte noch immer. Und dann war auch noch der Vermittler da, der bezeugt hatte, daß er in Frau Alutes Auftrag zweimal bei Miks gewesen war, ihm ihre Hand anzubieten.

Wie dem auch sein mochte, Frau Alute mußte vereidigt werden. Sie wurde noch einmal ausdrücklich ermahnt und streckte bereits die Schwurfinger in die Höhe, da geschah das Unerwartete, daß Miks in die Eidesworte hineinzusprechen anfing.

Der Präsident herrschte ihn an, aber er sprach weiter. Schwerfällig, tropfenweise fielen die litauischen Worte aus seinem Mund.

Frau Alute horchte hoch auf und – brach dann weinend zusammen.

Was er ihr gesagt hatte, wurde verdolmetscht und lautete: »Ich habe dir zwar bei Gott und bei deinem Mann geschworen, auch vor Gericht nichts davon zu sagen, aber es ist doch besser, daß du deine Seele nicht mit einem Meineid beschwerst und mich aufs Schafott bringen läßt. Drum sage doch lieber die Wahrheit.«

Unter Schreien und Händeringen kam, was geschehen war, nunmehr ans Tageslicht.

Alute Lampsatis lag abends halb eingeschlafen in ihrem Bett. Da wurde sie plötzlich durch Männerschritte aufgeschreckt, die im Hausflur näherkamen. Sie wußte, daß Schreien nichts helfen würde, denn Madlyne und die Magd und der Knecht waren zum Johannisfeuer gegangen. Da fing sie zu beten an und erwartete ihr Ende. Aber dann hörte sie plötzlich ihren Namen nennen und erkannte Miksens Stimme. »Geh weg,« sagte sie, »wenn ich auch nach dir geschickt habe, ich bin eine anständige Besitzerin, und niemand soll mir was Schlechtes nachsagen können.« – »Ich will gar nicht bei dir schlafen,« antwortete er, »ich will bloß, daß du mir das Gewehr gibst, das deinem Mann gehört hat, denn der Hegemeister hat mir meines weggenommen.« – »Das Gewehr ist nicht mehr da,« sagte sie, »und wenn es da wäre, würde ich es dir nicht geben, denn du willst damit bloß den Hegemeister umbringen.« Das bestritt er, aber sie glaubte ihm nicht. Und als er sich darauf hin wieder entfernen wollte, sprang sie in ihrer Angst aus dem Bett und verlegte ihm den Weg. Da fühlte er, daß sie im Hemd war, und blieb bei ihr bis an den Morgen.

Die große Spannung löste sich. Die Unschuld Miksens schien erwiesen. Und auch die Frage, warum er, da er doch mit Wissen der Wirtsfrau da war, statt einfach durch die Haustür zu gehen, durch das Kleinestubenfenster geklettert war, wurde nach einigem Zaudern und Drumherumreden hinreichend aufgeklärt. Man war des Glaubens gewesen, Madlyne sei inzwischen heimgekommen, und da ihre Kammer auf der anderen Seite des Hauses lag, hätten die Männerschritte im Hausflur ihr nicht entgehen können.

»Das hättet ihr gleich sagen können,« meinte der Vorsitzende. Und da auf weitere Zeugenvernehmungen verzichtet wurde, begann der Staatsanwalt gleich seine Rede.

Alles übrige rollte ohne Kampf und Zwischenfälle wie von selber dem Richterspruch zu. Der Losmann Miks Bumbullis wurde von der Anklage des Mordes freigesprochen und wegen Wilderns zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Miks Bumbullis verzog keine Miene. Auch als Frau Alute, die sich inzwischen von ihren Schreikrämpfen erholt hatte, glückwünschend auf ihn zutrat, ging kein Lächeln über sein Gesicht. Sein Blick hing wie erstarrt an einem Platze der Zeugenbank, wo neben Eve, der Magd, schmutzig und abgerissen die kleine Anikke saß, an den grünen Äpfeln nagend, die eine der Dorffrauen ihr geschenkt hatte. Sie war der Vollständigkeit halber mit vorgeladen worden, und Eve hatte für sie ausgesagt.

Als Miks abgeführt werden sollte – an Haftentlassung war natürlich nicht zu denken –, wandte er sich noch einmal nach dem Kind um, als wollte er irgend etwas zu ihm hinübersagen. Aber der Gerichtsdiener stieß ihn hinaus.

 

5

 

Der Grabhügel des alten Hegemeisters begann zu verfallen, denn niemand war da, der sein Andenken hochhielt. Um das Schicksal der kleinen Anikke entspann sich ein Prozeß zwischen dem Forstfiskus und der Gemeinde, der ihr verschollener Vater angehört hatte. Beide wollten die Erziehungspflicht einander in die Schuhe schieben. Und da der Fiskus an allzuviel Gemüt nicht krankt und die Weitläufigkeit der Verwandtschaft zwischen dem Toten und dessen verwaistem Pflegling ihm als ausreichender Grund zustatten kam, so blieb die kleine Anikke als unwillkommener Gast an jener Gemeinde hängen, die ihrerseits froh war, sie für ein kleines Entgelt an den Ort abschieben zu können, an dem sie die letzte Zeit über gehaust hatte.

So wurde sie eines Tages beim Ortsschulzen öffentlich versteigert und kam an den Mindestfordernden, den Häusler Kibelka, einen wenig vertrauenerweckenden Zeitgenossen, der die paar Groschen brauchte, um sie in Branntwein anzulegen.

Wie so ein armes kleines Tierchen, von dem Gott und Menschheit die sorgenden Augen abgewandt haben, in seinem stummen Jammer leidet, das hat noch niemand erkannt und beschrieben, und niemand wird es je erkennen und beschreiben können. Was Hunger und Schmutz, was Prügel und Kälte, was vor allem das Fehlen jedes streichelnden Wortes in der noch nicht erschlossenen Seele ersticken und zerfressen, bis aus dem in unbewußter Zuversicht aufjauchzenden jungen Leben ein scheu zitterndes, in sich verkrochenes, kaum noch des Atmens fähiges Halbdasein geworden ist, das verliert sich in Dunkel und Schweigen. Alljährlich wird ein unermeßlicher Haufen von solchem Menschenkehricht ins Grab geschaufelt, wo es zu seinem Besten hingehört. Und nur wie durch ein Wunder senkt sich bisweilen von der Sonne eine Hand hernieder und hebt eins oder das andere der schon fast abgestorbenen Kümmerlinge zum Licht empor.

Ja, wenn die Sonne nicht wäre! Und der Hofhund allenfalls!

Neben dem Hofhund zu liegen und sich wie er von einem gutgesinnten Mittagssonnenschein sanft anwärmen zu lassen, bleibt schließlich das einzige Glück so eines glücklosen Schattengeschöpfes.