An jenem sonnenhellen Morgen, an dem er sie jetzt wieder vor sich sah, wie sie die Zweige auseinanderbog, war sie zehn Jahre alt. Er zählte sechzehn Jahre und sollte am folgenden Dienstag in das Seminar eintreten. Niemals war sie ihm so schön erschienen. Ihre wie reines Gold glänzenden Haare waren so lang, daß sie, wenn sie sich lösten, sie ganz umhüllten. Er sah ihr Gesicht von damals ganz deutlich vor sich, ihre runden Backen, ihre blauen Augen, ihren roten Mund und vor allem den Glanz ihrer schneeweißen Haut. Sie war heiter und strahlend wie die Sonne. An ihren Augenlidern schimmerten Tränen, denn sie wußte, daß er fortgehen würde. Sie saßen zusammen im Schatten der Hecke im Hintergrunde des Gartens. Ihre Hände waren verschlungen und ihre Herzen schwer. Dennoch hatten sie niemals bei ihren Tändeleien Schwüre ausgetauscht, so unberührt waren noch ihre Seelen. Aber am Abende vor ihrer Trennung trat ihnen ihre zärtliche Liebe auf die Zunge. Sie sprachen davon, ohne es zu wissen, sie schwuren, unablässig aneinander zu denken und sich eines Tages wiederzufinden, wie man sich im Himmel wiederfindet, um glücklich zu sein. Dann hatten sie sich in die Arme genommen, ohne weiter zu fragen, und sich bis zum Ersticken geküßt und heiße Tränen vergossen. Es war eine köstliche Erinnerung, die Pierre damals mit fortgenommen hatte und die er immer noch lebendig in sich fühlte, trotzdem so viele Jahre und so viel schmerzliches Entsagen dazwischen lagen.

Ein heftiger Stoß weckte ihn aus seinen Träumereien. Er blickte im Wagen umher und sah in undeutlichen Umrissen die Gestalten der Leidenden; Frau Maze saß, unbeweglich und von ihrem Schmerz betäubt da. Die kleine Rose stöhnte leise auf den Knien ihrer Mutter. Einen Augenblick trat die heiter lächelnde Gestalt der Schwester Hyacinthe in den Vordergrund mit ihrer weißen Haube und dem weißen Brusttuche. Dann verschwamm alles von neuem in einem Nebel, der aus der fernen Vergangenheit herbeizog. Es blieb nur noch der einschläfernde Gesang der undeutlichen Traumstimmen, die aus dem Unsichtbaren hervordrangen.

Später war Pierre auf dem Seminar. Deutlich erschienen ihm wieder die Schulzimmer, der kleine Klosterhof mit seinen Bäumen. Plötzlich aber sah er wie in einem Spiegel die Gestalt eines jungen Menschen, so, wie er damals war, und er betrachtete sie genau, er zergliederte sie, wie die Gestalt eines Fremden. Groß und schlank, hatte er ein langes Gesicht mit einer stark entwickelten Stirn, hoch und gerade wie ein Turm, während die Kinnbacken zurücktraten und in einem sehr feinen Kinn endigten. Er schien ganz Verstand zu sein; nur der etwas große Mund war zart. Wenn das ernste Gesicht einen freundlicheren Ausdruck annahm, dann verrieten der Mund und die Augen eine unendliche Zärtlichkeit, ein unstillbares Verlangen zu lieben, sich hinzugeben und zu leben. Daneben stand die geistige Leidenschaft hochstehender Wesen, Neues zu lernen und zu erfahren. Diese Begierde hatte stets an ihm gezehrt. Mit Erstaunen gedachte er dieser Seminarjahre wieder. Wie hatte er nur so lange Zeit die herbe Lehre des blinden Glaubens ruhig hinnehmen können, wie hatte er sich gehorsam ohne Prüfung all dem unterwerfen können? Man hatte von ihm eine vollständige Preisgabe seines Verstandes verlangt. Er hatte sich zwingen lassen und war schließlich dahin gelangt, das quälende Verlangen nach Wahrheit ganz in sich zu ersticken. Ohne Zweifel hatten ihn die Tränen seiner Mutter gerührt.