Seit Amboise macht er uns viel Sorge und Angst, und ich habe soeben nach dem geweihten Öle geschickt ... Glauben Sie auch, daß es so schlimm mit ihm steht? Können Sie ihm nicht etwas Lebenskraft einflößen?«

Der junge Arzt untersuchte ihn. Die Teilnahme der anderen Kranken, die in dem Wagen geblieben waren, wurde wach. Marie, der Schwester Saint-François die Tasse Bouillon gereicht hatte, hielt sie mit so heftig zitternder Hand, daß Pierre sie ihr wieder abnehmen und versuchen mußte, ihr den Trank einzuflößen. Aber sie konnte nicht trinken. Ihre Augen ruhten starr und in banger Erwartung auf dem Manne, gleich als ob es sich um ihr eigenes Leben gehandelt hätte.

»Sagen Sie mir«, sagte Schwester Hyacinthe von neuem, »wie finden Sie ihn? Welche Krankheit hat er?«

»Oh, welche Krankheit!« murmelte Ferrand. »Er hat alle möglichen.«

Dann zog er ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche und versuchte dem Kranken einige Tropfen durch die fest aufeinander gepreßten Zähne einzuflößen. Dieser stieß einen Seufzer aus, hob die Augenlider langsam in die Höhe und ließ sie gleich wieder niederfallen. Dies war alles, sonst gab er kein anderes Lebenszeichen.

Schwester Hyacinthe, die so gefaßt war und niemals in Verzweiflung geriet, wurde ungeduldig.

»Das ist schrecklich, und Schwester Claire des Anges kommt auch gar nicht zurück! Ich habe ihr doch ganz genau den Wagen des Paters Massias bezeichnet ... Mein Gott! was sollen wir nur machen?«

Schwester Saint-François schickte sich an, in ihren Küchenwagen zurückzukehren, da sie sah, daß sie hier unnötig war. Vorher fragte sie jedoch, ob der Kranke nicht vielleicht nur vor Hunger stürbe. Das käme vor, und sie wäre nur hierhergekommen, um ihre Vorräte anzubieten. Als sie fortging, versprach sie, Schwester Claire des Anges zur Eile antreiben zu wollen, wenn sie ihr zufällig begegnen würde. Sie war noch nicht zwanzig Meter weit entfernt, als sie sich umdrehte und mit der Hand auf die Schwester wies, die mit kleinen und geräuschlosen Schritten zurückkehrte.

An die Tür gelehnt rief Schwester Hyacinthe mit verstärkter, hastiger Stimme:

»So beeilen Sie sich doch! So beeilen Sie sich doch ... Nun, und Pater Massias?«

»Er ist nicht da!«

»Wie? Er ist nicht da?«

»Nein. Man kann unmöglich vorwärtskommen durch die Menschenmasse. Als ich endlich den Wagen erreichte, war Pater Massias schon ausgestiegen und vom Bahnhof weggegangen.«

Der Pater müsse, wie man ihr erzählt habe, eine Zusammenkunft mit dem Kurat von Sainte-Radegonde verabredet haben. In den früheren Jahren hätte der nationale Pilgerzug hier einen Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden gehabt. Man hatte die Kranken in das Hospital in der Stadt gebracht und sich in Prozession nach Sainte-Radegonde begeben. Dieses Jahr wäre jedoch ein Hindernis eingetreten, der Zug führe direkt bis Lourdes. Der Pater wäre sicher dort und spräche mit dem Kuraten, mit dem er etwas zu verhandeln hätte.

»Man hat mir versprochen, ihm den Auftrag auszurichten und ihn mit dem geweihten Öle herzuschicken, sobald man ihn finden würde.«

Das war ein wirkliches Unglück für Schwester Hyacinthe. Da die Wissenschaft nicht helfen konnte, so hätte vielleicht das geweihte Öl dem Kranken Erleichterung verschafft. Sie hatte das schon oft gesehen.

»Oh, liebe Schwester, liebe Schwester! Was habe ich für Kummer und Sorge ... Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein und noch einmal hingehen und auf den Pater Massias warten, damit Sie ihn mir gleich bringen können, wenn er zurückkommt?«

»Ja, liebe Schwester«, antwortete Schwester Claire bereitwillig und machte sich mit ihrer ernsten, geheimnisvollen Miene wieder auf den Weg, indem sie sich geschmeidig durch die Menschenmenge wand.

Ferrand war untröstlich darüber, daß er der Schwester Hyacinthe nicht die Freude bereiten konnte, ihn wieder zu beleben. Als er sein Unvermögen durch eine bedauernde Geste zu erkennen gab, bat sie flehentlich:

»Bleiben Sie bei mir, Herr Ferrand, warten Sie, bis der Pater kommt ... Ich werde dann etwas ruhiger sein.«

Er blieb, er half ihr den Mann wieder in die Höhe richten, wenn er von der Bank herunterrutschen wollte. Das Warten zog sich lange hinaus unter dem Unbehagen der in dem Wagen zurückgebliebenen Kranken und der Neugierde derjenigen, die sich draußen anzusammeln begannen.

Ein junges Mädchen drängte lebhaft durch die Menge und wendete sich, auf das Trittbrett steigend, an Frau von Jonquière:

»Warum kommst du denn nicht, Mama? Die Damen warten mit dem Essen auf dich.«

Es war Raymonde von Jonquière. Schon etwas verblüht für ihre fünfundzwanzig Jahre, sah sie ihrer Mutter auffallend ähnlich mit ihrem dunklen Teint, ihrer kräftigen Nase, ihrem großen Munde und ihrer vollen, angenehmen Gestalt.

»Wie du siehst, liebes Kind, kann ich diese arme Frau nicht verlassen.«

Und sie zeigte auf die Grivotte, die wieder einen Hustenanfall hatte, der sie furchtbar mitnahm.

»O Mama, das ist schade! Frau Desagneaux und Frau Volmar haben sich so sehr auf das kleine Frühstück zu vieren gefreut!«

»Was willst du, mein armes Kind? Fangt nur immer ohne mich an ... Sage den Damen, daß ich mich, sobald ich könnte, hier losmachen und sie aufsuchen würde.«

Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke.

»Halt, dort ist ein Arzt! Ich will versuchen, ob ich ihm meine Kranke anvertrauen kann. Geh voraus, ich werde dir sofort folgen.