Seit vierzehn Monaten hatte sie das Kind auf ihren Armen gehalten, das immer elender wurde und zurückging und ganz und gar verfiel. Da war sie, die nie zur Messe ging, eines Tages, von Verzweiflung getrieben, in eine Kirche getreten, um Genesung für ihre Tochter zu erflehen; und da hatte sie eine Stimme vernommen, die ihr riet, das Kind nach Lourdes zu bringen, wo sich die Heilige Jungfrau seiner erbarmen würde. Da sie niemand kannte und auch nicht wußte, wie die Wallfahrten eingerichtet waren, so hatte sie nur den einen Gedanken gehabt: zu arbeiten, Geld zur Reise zu sparen, ein Billett zu nehmen und mit den dreißig Sous, die ihr übriggeblieben waren, abzufahren und nur eine Flasche Milch für das Kind mitzunehmen, ohne auch nur daran zu denken, für sich selbst ein Stück Brot zu kaufen.
»Welche Krankheit hat die liebe Kleine denn?« fragte die Dame.
»Oh, der Leib ist sicherlich nur aufgetrieben. Aber die Ärzte haben andere Namen dafür. Zuerst hatte sie nur leichte Leibschmerzen. Dann schwoll der Leib an, und sie litt so schwer, daß es einem die Tränen aus den Augen trieb. Jetzt hat sich der Leib wieder gesenkt, aber sie lebt eigentlich gar nicht mehr, sie hat keine Kräfte mehr, so mager ist sie geworden, und durch das unaufhörliche Schwitzen zehrt sie sich noch ganz ab.«
Die Mutter beugte sich, als Rose stöhnte und die Augen öffnete, bestürzt und erblassend zu ihr nieder.
»Mein Kleinod, mein Schatz, was willst du? ... Willst du trinken?«
Das kleine Mädchen schloß seine leeren Augen wieder, deren mattes Blau man einen Augenblick hatte sehen können. Sie antwortete nicht einmal und lag in ihrem totenähnlichen Zustand zurückgesunken, in ihrem weißen Kleidchen ganz weiß da, eine letzte Koketterie der Mutter, die diese unnötige Ausgabe gemacht hatte in der Hoffnung, die Heilige Jungfrau würde der kleinen Kranken viel gnädiger sein, wenn sie gut und ganz weiß gekleidet wäre.
Nach einem kurzen Stillschweigen fing Frau Vincent das Gespräch von neuem an:
»Und Sie, Sie reisen gewiß Ihretwegen nach Lourdes? Man sieht es Ihnen an, daß Sie krank sind.«
Die Frau fuhr erschreckt zusammen und sank dann schmerzgebeugt in ihre Ecke zusammen, indem sie murmelte:
»Nein, nein! Ich bin nicht krank ... Wollte Gott, ich wäre krank! Ich würde dann weniger leiden.«
Sie hieß Frau Maze und trug in ihrem Herzen einen unstillbaren Kummer. Nachdem sie mit einem lebenslustigen jungen Manne eine Liebesheirat geschlossen hatte, sah sie sich nach Verlauf eines Jahres voll Glückseligkeit verlassen. Ihr Gatte, der in Bijouteriewaren reiste, beständig unterwegs war und viel Geld verdiente, war seit sechs Monaten verschwunden. Er lockte sie von einem Ende Frankreichs zum andern und hatte sogar liederliche Frauenzimmer bei sich. Und sie betete ihn an und litt darunter so furchtbar, daß sie sich der Religion in die Arme warf. Endlich hatte sie den Entschluß gefaßt, nach Lourdes zu gehen, um die Heilige Jungfrau zu bitten, ihren Gatten zu bekehren und ihn zu ihr zurückzuführen.
Frau Vincent fühlte, ohne das richtige Verständnis dafür zu haben, dennoch den großen moralischen Schmerz, und beide fuhren fort, sich anzusehen, die verlassene Frau, die in ihrer Leidenschaft sich zu Tode grämte, und die Mutter, die daran zugrunde ging, daß sie ihr Kind sterben sah.
Jetzt mischte sich Pierre, der ebenso wie Marie zugehört hatte, in das Gespräch. Er wunderte sich, daß die Arbeiterin ihre kleine Kranke nicht hatte in das Hospital aufnehmen lassen. Die Gesellschaft von Notre-Dame de Salut war von den Augustinern von Mariä Himmelfahrt nach dem Kriege gegründet worden, um für das Wohl von Frankreich und für die Verteidigung der Kirche durch gemeinschaftliches Gebet und durch Wohltätigkeit zu arbeiten. Sie waren es, die die Bewegung der großen Wallfahrten und ganz besonders die nationale Wallfahrt ins Werk gesetzt und seit zwanzig Jahren ohne Unterlaß vergrößert hatten, die jährlich gegen Ende August nach Lourdes ging. So hatte sich eine kluge Einrichtung nach und nach vervollkommnet. Von überall flossen beträchtliche Almosen zusammen. In jedem Kirchspiel wurden Kranke angeworben, mit den Eisenbahngesellschaften Verträge abgeschlossen, ohne die tätige Hilfe der kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt und die Gründung der Hospitalität von Notre-Dame de Salut zu rechnen. Eine weite Verbrüderung aller wohltätigen Gesellschaften wurde geschaffen, in der Männer und Frauen, meistenteils der vornehmen Welt angehörig, unter Aufsicht von Leitern der Wallfahrten die Kranken versorgten, trugen und über gute Ordnung wachten. Die Kranken mußten eine schriftliche Bitte um Aufnahme in das Hospital einreichen, wodurch sie sämtlicher Kosten für die Reise und den Aufenthalt überhoben waren. Man holte sie von ihrem Wohnort ab und brachte sie wieder dorthin zurück. Sie hatten also nur einige Lebensmittel auf die Reise mitzunehmen. Aber die bei weitem größte Anzahl hatte Empfehlungen von Geistlichen und wohltätigen Leuten, die bei den Eintragungen die notwendigen Identitätsnachweise und ärztlichen Zeugnisse prüften. Außerdem hatten die Kranken nur ihre Plätze einzunehmen und waren unter den brüderlich und schwesterlich sorgenden Händen der männlichen und weiblichen Helfer nichts als trauriges Objekt für Leiden und für Wunder.
»Aber, liebe Frau«, setzte Pierre ihr auseinander, »Sie hätten sich doch nur an den Geistlichen Ihres Kirchspiels zu wenden brauchen. Dieses arme Kind verdient volles Mitleid. Man würde es sofort aufgenommen haben.«
»Das wußte ich nicht, Herr Abbé.«
»Wie haben Sie es denn dann gemacht?«
»Ich habe mir an einem Orte ein Billett gekauft, den mir eine Nachbarin nannte, die die Zeitungen liest, Herr Abbé«
Sie sprach von den Fahrkarten, die man unter die Pilger, die bezahlen konnten, verteilte.
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