Ruhm und Ehre der Heiligen Jungfrau! Ewige Dankbarkeit und Liebe!

Der Zug rollte vorwärts, rollte weiter und weiter. Man fuhr gerade durch Coutras, es war sechs Uhr. Schwester Hyacinthe erhob sich, klatschte in die Hände und wiederholte noch einmal:

»Das Angelus, meine Kinder!«

Niemals waren die Aves mit gläubigerer Inbrunst gebetet worden. Da begriff Pierre plötzlich, da fand er die richtige Erklärung für diese Pilgerfahrten, für alle die Züge, die durch die ganze Welt rollten, für diese zusammenströmenden Menschenmassen, für Lourdes selbst, das wie das Heil für Leib und Seele strahlte. Jammergestalten sah er seit diesem Morgen vor sich, sah, wie sie in ihren Schmerzen röchelten und stöhnten! Sie waren alle von der Wissenschaft verurteilt und aufgegeben und waren es überdrüssig, Ärzte zu konsultieren und sich mit nutzlosen Heilmitteln quälen zu lassen. So begriff man auch, daß sie in dem heißen Verlangen, zu leben, und nicht gewillt, sich mit den Anordnungen der ungerechten Natur zufrieden zu geben, sich dem Traume einer überirdischen Gewalt hingaben, einer allmächtigen Gottheit, die vielleicht die bestehenden Gesetze aufheben, den Lauf der Gestirne verändern und die Vergangenheit wieder wachrufen würde. Blieb ihnen denn Gott nicht, wenn die Erde sie im Stiche ließ? Oh, wer doch glauben könnte, daß es irgendwo einen höchsten Gerichtsherrn gibt, der die Ungerechtigkeiten der Menschen und der Dinge ausgleicht, wer doch glauben könnte, daß es einen Erlöser gibt, einen Tröster, der der Herr ist, der die Ströme zu ihrer Quelle zurückfließen lassen, den Greisen die Jugend wiedergeben und die Toten auferwecken kann! Wer sich sagen könnte, wenn man mit Wunden bedeckt ist, wenn man verkrüppelte Glieder hat, wenn der Leib durch Geschwüre angeschwollen und die Lunge zerstört ist, wer sich dann sagen könnte, das hat nichts zu bedeuten, alles das kann verschwinden und wiedererstehen auf ein Zeichen der Heiligen Jungfrau, und es genügt, zu ihr zu beten, sie zu rühren und von ihr mit einem Wunder begnadet zu werden! Und dann, welch eine Quelle himmlischer Hoffnungen ist es, wenn man den überreichen Strom dieser schönen Geschichten fließen läßt, die die fieberhaft erregte Einbildungskraft der Kranken und Siechen bezaubert und berauscht! Seitdem die kleine Sophie Couteau mit ihrem geheilten weißen Fuß in den Wagen gestiegen war und den grenzenlosen Himmel des Göttlichen und Übernatürlichen aufgetan hatte, wie verstand man da den Hauch von wunderbarer Genesung, der durch den Raum zog, die Verzweifelten von ihrem Siechbett emporrichtete und die Augen aller erglänzen ließ. Das Leben war auch für sie noch möglich, vielleicht würden sie selbst es bald von neuem anfangen.

Ja, so verhielt es sich. Wenn dieser jammervolle Zug dahinrollte und immer weiter und weiter rollte, wenn der Wagen voll war, wenn die anderen voll waren, wenn Frankreich und die Welt von den entferntesten Winkeln der Erde her von ähnlichen Zügen durchbraust wurden, wenn mehr als dreimalhunderttausend Gläubige, die Tausende von Kranken mit sich führten, von einem Ende des Landes zum andern sich in Bewegung setzten, so geschah dies alles, weil dort unten die Grotte in ihrer Glorie strahlte wie ein Leuchtturm der Hoffnung und des Glaubens, wie der Triumph des Unmöglichen über die unerbittliche Materie. Diesen Traum zu träumen, das war das große, unaussprechliche Glück. Wenn von Jahr zu Jahr der Erfolg der Pilgerzüge sich steigerte, so kam das daher, weil den in ihrem Verlangen nach Trost herbeigeeilten Völkerscharen das köstliche Brot der Hoffnung winkte, nach dem die leidende Menschheit unaufhörlich Hunger hat. Und es waren nicht nur die physischen Leiden, die nach Heilung riefen, das ganze moralische und intellektuelle Sein klagte laut sein Leid in dem unstillbaren Durste nach Glück. Glücklich sein, die Gewißheit seines Lebens in den Glauben setzen, sich bis zum Tode auf diesen festen und einzig sicheren Reisestab stützen können, das war der Wunsch, der aus allen Herzen aufstieg, der alle Schmerzen niederknien ließ in dem Flehen um Gnade, um das geistige Heil für sich selbst und für die, die man liebt. Der ungeheure Schrei pflanzte sich fort, stieg empor und erfüllte den Raum, der Schrei: Glücklich sein für immer, im Leben und im Tode!

Pierre hatte gesehen, wie alle die Leidenden, die ihn umgaben, das Rasseln der Räder nicht mehr vernahmen und wie sie ihre Kräfte wiederfanden mehr und mehr nach jeder zurückgelegten Meile, die sie dem Wunder näherbrachte. Selbst Frau Maze wurde gesprächig in der festen Überzeugung, daß die Heilige Jungfrau ihren Gatten zu ihr zurückführen würde. Frau Vincent wiegte selig lächelnd ihre kleine Rose und fand sie viel weniger krank als jene halbtoten Kinder, die man in das eiskalte Wasser tauchte und die dann spielten. Herr Sabathier plauderte mit Herrn von Guersaint und erzählte ihm, daß er im Oktober, wenn er seine Beine wieder gebrauchen könnte, nach Rom gehen würde, eine Reise, die er schon seit fünfzehn Jahren von Jahr zu Jahr verschoben hätte. Frau Vêtu, die sich ebenfalls etwas beruhigt hatte, wenn ihr Magen sie auch noch immer quälte, glaubte Hunger zu haben und bat daher Frau von Jonquière, ihr kleine Brotschnitten in ein Glas Milch einzutauchen, während Elise Rouquet, ohne an ihre Wunde zu denken, ihr Gesicht enthüllt hatte und eine Weintraube aß. Und Frau Grivotte, die auf ihrem Platze saß, und Bruder Isidor, der aufgehört hatte zu stöhnen, waren infolge dieser schönen Märchen in einem glücklichen Fieberzustande, so daß sie in ihrem ungeduldigen Verlangen nach Heilung sich sichtlich beruhigten. Sogar der Unbekannte kam, wenn auch nur auf eine Minute, zum Bewußtsein. Als Schwester Hyacinthe von neuem den kalten Schweiß von seinem Gesichte abtrocknete, öffnete er die Augenlider, während einen Augenblick ein Lächeln sein Gesicht verklärte. Noch einmal hatte er gehofft. Marie hielt noch immer die Hand Pierres. Es war sieben Uhr; man sollte um siebeneinhalb Uhr in Bordeaux sein. Der Zug, der sich etwas verspätet hatte, beschleunigte, um die verlorenen Minuten wieder einzuholen, seine Geschwindigkeit. Das Gewitter hatte aufgehört zu toben, und von dem weiten, klaren Himmelszelte senkte sich ein unendlich süßer Friede auf die Erde herab.

»Oh, Pierre, wie schön ist das! Wie schön ist das!« wiederholte Marie von neuem und drückte ihm die Hand in überschwellendem Zärtlichkeitsgefühle.

Dann beugte sie sich zu ihm hin und flüsterte ihm mit ganz leiser Stimme zu:

»Pierre, ich habe vorhin die Heilige Jungfrau gesehen und sie um Ihre Heilung gebeten. Sie hat sie mir zugesagt.«

Der junge Priester verstand sie und wurde ganz verwirrt von dem himmlischen Glanze ihrer Augen, die sie auf die seinigen geheftet hielt. Sie hatte sich selbst vergessen und nur um seine Bekehrung gebeten. Dieser Glaubenswunsch, der so rein von diesem leidenden Wesen ausging, brachte seine Seele zur Umkehr. Warum sollte er nicht eines Tages glauben? Er selbst war von den vielen außergewöhnlichen Erzählungen wie verwirrt.