Doch fand sie auch Gefallen an einer andern wunderbaren Geschichte, an der von den vier Haimonskindern. Auf dem gelben Einbande des Buches sah man in einem naiven Stiche die vier ritterlichen Helden, Renaud und seine Brüder, die alle vier zusammen auf Bayard, ihrem berühmten Schlachtroß, saßen, mit dem sie einst von der Fee Orlande königlich beschenkt worden waren. Ferner erblickte man die Erbauung und Belagerung von Festungen, blutige Kämpfe, schreckliche Gefechte zwischen Roland und Renaud, der endlich auszog, das Heilige Land zu befreien, nicht zu vergessen den Zauberer Maugis mit seinen wunderbaren Zauberkünsten, und die Prinzessin Clarisse, die Schwester des Königs von Aquitanien, die schöner war als der Tag. Wenn ihre Einbildungskraft erregt war, kostete es Bernadette zuweilen viel Mühe, einzuschlafen, besonders an den Abenden, an denen man die Bücher beiseiteließ und einer von den Anwesenden eine Hexengeschichte erzählte. Sie war sehr abergläubisch, und man hätte sie niemals dazu bringen können, nach Sonnenuntergang an einem Turme in der Nachbarschaft vorüberzugehen, den der Teufel öfters besuchen sollte. Die ganze Gegend war sehr fromm und einfältig und wimmelte von Geheimnissen, von Bäumen, welche sangen, von Steinen, aus denen Blut perlte, von Kreuzwegen, an denen man drei Vaterunser und drei Aves beten mußte, wenn man nicht dem wilden Tiere mit den sieben Hörnern begegnen wollte, das die Mädchen ins Verderben schleppte. Und welcher Reichtum an Märchen! Es gab deren Hunderte, man würde an einem Abend damit gar nicht fertig geworden sein. Zuerst kamen die Abenteuer der Werwölfe, jener unglücklichen Menschen, die von dem Teufel gezwungen werden, in eine Hundehaut zu fahren, in die Haut eines jener großen weißen Berghunde. Wenn man auf den Hund einen Flintenschuß abgibt und wenn eine einzige Kugel ihn trifft, so ist der Mensch erlöst. Wenn die Kugel aber nur den Schatten trifft, dann stirbt der Mensch sofort. Dann folgten die Zauberer und die Hexen. Eine dieser Geschichten hörte Bernadette leidenschaftlich gern, die eines Gerichtsschreibers von Lourdes, der den Teufel sehen wollte, und den eine Zauberin am Karfreitag um Mitternacht auf ein ödes Feld führte. Der Teufel kam, prächtig in Rot gekleidet. Sofort machte er dem Gerichtsschreiber den Vorschlag, seine Seele zu kaufen, worauf jener scheinbar einging. Der Teufel trug unter seinem Arme das Register, in dem die Leute der Stadt eingezeichnet waren, die sich ihm schon verkauft hatten. Aber der schlaue Schreiber zog aus seiner Tasche ein Fläschchen heraus, in dem sich angeblich Tinte befinden sollte, während es nichts anderes als eine Flasche geweihten Wassers war. Er besprengte damit den Teufel, der entsetzliche Schreie ausstieß, während der Schreiber selbst die Flucht ergriff und das Register mitnahm. Dann begann eine tolle Jagd, deren Beschreibung den ganzen Abend hätte in Anspruch nehmen können, eine Jagd über die Berge, durch Täler, durch Wälder, durch Wildbäche. »Gib mir das Register wieder!« – »Nein, das wirst du nicht wiederbekommen.« Und dieses kurze Zwiegespräch fing immer von neuem an. »Gib mir das Register wieder!« – »Nein, das wirst du nicht wiederbekommen!« Dem Gerichtsschreiber, der schon ganz atemlos und nahe daran war, zu unterliegen, kam endlich ein rettender Gedanke: er warf sich auf den Kirchhof in geweihte Erde und verspottete von dort aus den Teufel, indem er das Register lustig hin und her schwenkte. Auf diese Weise hatte er die Seelen all der Unglücklichen gerettet, die darin verzeichnet standen.
Einen ganzen Winter hindurch fand die Spinnstube in der Kirche statt. Der Kurat Ader hatte es erlaubt, und viele Familien kamen, um das Licht zu sparen, ganz abgesehen davon, daß man es auch viel wärmer hatte, wenn alle so beisammen waren. Man las aus der Bibel vor oder man sagte in Gemeinschaft Gebete her. Die Kinder schliefen dabei ein. Nur Bernadette kämpfte bis zum Schluß mutig gegen den Schlaf, glücklich, hier in dem schmalen Schiff der kleinen Kirche verweilen zu dürfen, deren dünnes Balkenwerk rot und blau angestrichen war. Im Hintergrunde erhob sich in gelbroter, etwas barbarischer Pracht der Altar mit seinen gewundenen Säulen und seinen Altarblättern, die Maria und die Enthauptung des heiligen Johannes darstellten. Das Kind mußte in der Schlaftrunkenheit, die es übermannte, die Vision dieser grell gemalten Bilder, mußte das Blut aus den Wunden fließen, die Heiligenscheine strahlen und die Heilige Jungfrau immer wieder kommen sehen, die sie mit ihren lebhaften blauen Augen anschaute, während es ihr vorkam, als ob die Gebenedeite im Begriffe stände, ihre Lippen zu öffnen, um das Wort an sie zu richten. Monatelang verbrachte sie auf diese Art und Weise ihre Abende, vor dem prunkvollen Altar, in einem Halbschlafe, in welchem schon der göttliche Traum begann, den sie dann nach Hause mitnahm, um ihn in ihrem Bett weiter zu träumen, während sie unter dem Schutze ihres guten Engels schlief.
Es war auch in jenem alten, ärmlichen Kirchlein, wo Bernadette anfing, den Katechismus zu lernen. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden und mußte an ihre erste Kommunion denken. Ihre Pflegemutter, die für geizig galt, schickte sie nicht in die Schule, da sie sie vom Morgen bis zum Abend im Hause verwendete.
1 comment