»Die Heilige Jungfrau wacht über uns.«
Sie konnte nicht mehr in ihrer sitzenden Stellung bleiben, man mußte sie wieder in ihren engen Sarg legen. Ihr Vater und der Priester mußten dabei mit der größten Vorsicht zu Werke gehen, denn der leiseste Stoß entlockte ihr ein schmerzliches Stöhnen. Und dann lag sie da, ohne zu atmen, wie eine Tote, mit ihrem Leidensgesichte, umwallt von ihrem blonden, königlichen Haarschmucke. Man fuhr nun schon seit beinahe vier Stunden, und rastlos rollte der Zug immer weiter und weiter. Daß der Wagen in so unerträglicher Weise hin und her geschleudert wurde, lag daran, daß er sich am Ende des Zuges befand. Die Verbindungsketten kreischten, und die Räder rasselten entsetzlich. Durch die Fenster, die man notgedrungen halb offen hatte stehen lassen müssen, drang Staub herein, sonnendurchglüht und beißend. Dabei nahm die Hitze immer mehr zu. Eine gewitterschwangere, erschlaffende Hitze. Der Himmel hatte ein fahles Aussehen und bedeckte sich allmählich mit schweren, unbeweglichen Wolken. Überhitzten Backöfen glichen die Abteilungen, diese engen dahinrollenden Behausungen, in denen man aß und trank, in denen die Kranken alle ihre Bedürfnisse in der verdorbenen Luft befriedigten und unter dem betäubenden Durcheinander von Klagen, Gebeten und Gesängen.
Marie war nicht die einzige, deren Zustand sich verschlimmert hatte, die anderen litten in gleicher Weise unter der Reise. Auf den Knien ihrer verzweifelten Mutter, die sie mit ihren großen, von Tränen verdunkelten Augen betrachtete, lag die kleine Rose bewegungslos mit so bleichem Gesicht, daß sich Frau Maze schon zweimal zu ihr herabgebeugt hatte, um ihre Händchen anzufassen, in der Furcht, sie kalt zu finden. Jeden Augenblick mußte Frau Sabathier den Beinen ihres Mannes eine andere Lage geben, denn sie wurden ihm so schwer, wie er sagte, als ob man sie ihm aus den Hüften herausreißen wollte. Der Bruder Isidor fing an in seinem totenähnlichen Zustande Schreie auszustoßen, und seine Schwester hatte ihn nur dadurch beruhigen können, daß sie ihn etwas in die Höhe richtete und in ihren Armen hielt. Die Grivotte schien zu schlafen, doch erschütterte ununterbrochen ein Schlucken ihren Körper, und aus ihrem Munde rieselte langsam ein dünner Faden Blut. Frau Vêtu hatte wieder eine schwarze, ekelhafte Flüssigkeit von sich gegeben. Elise Rouquet dachte nicht mehr daran, die entsetzliche Wunde in ihrem Gesichte zu verbergen. Der Mann dort drüben fuhr fort, so dumpf zu röcheln, als wenn es jede Sekunde mit ihm zu Ende gehen wollte. Umsonst mühten sich Frau von Jonquière und Schwester Hyacinthe ab. Sie konnten nichts weiter tun, als die Jammernden trösten. Für Augenblicke war dies alles wie ein Traum, dieser Wagen voll Elend und Jammer, der mit voller Geschwindigkeit dahinfuhr und die Gepäckstücke, die alten aufgehängten Kleider, die abgenutzten Körbe, die mit Bindfaden notdürftig geflickt waren, hin und her schüttelte, während in der hintersten Abteilung zehn Pilgerinnen, alte und junge, alle von einer bedauernswerten Häßlichkeit, ohne Unterlaß in jammervollen, gellenden und falschen Tönen sangen.
Pierre dachte an die anderen Wagen des weißen Zuges. Alle rollten dahin voll des gleichen Elends mit dreihundert Kranken und fünfhundert Pilgern. Dann dachte er an die anderen Züge, die an diesem Tage Paris verließen, an den grauen und den blauen Zug, die vor dem weißen von Paris abgefahren waren, an den grünen Zug, an den gelben, an den rosa- und an den orangefarbenen Zug, die ihm folgten. Und er dachte an andere Züge, die an dem gleichen Tage von Orleans, Le Mans, Poitiers, Bordeaux, Marseille und Carcassone abgingen. Die Erde Frankreichs sah sich zur selben Stunde nach allen Richtungen hin durchfurcht von ähnlichen Zügen, die alle der heiligen Grotte zustrebten und dreißigtausend Pilger und Kranke zu den Füßen der Heiligen Jungfrau führten. Und er dachte daran, daß ein solcher Menschenstrom wie an diesem Tage sich auch an den anderen Tagen des Jahres dorthin wälzte, daß keine Woche verging, ohne daß Lourdes eine Wallfahrt ankommen sah, und daß nicht nur Frankreich allein, sondern daß ganz Europa, daß die ganze Welt sich auf den Weg dorthin machte, und daß es in besonders frommen Jahren dreimalhunderttausend, ja sogar bis fünfmalhunderttausend Pilger und Kranke dort gegeben hatte.
Pierre glaubte sie zu hören, diese im Rollen begriffenen Züge, die Züge, die überallher kamen und die alle derselben Felsengrotte zustrebten, in der die Kerzen flammten. Alle rollten rasselnd dahin unter Schmerzensgeschrei und dem Rauschen der frommen Gesänge. Es waren fahrende Hospitäler voll verzweifelter Kranker, Züge menschlichen Leidens zu der Hoffnung und der Heilung; ein großes brennendes Verlangen nach Trost vor dem Drohen des schrecklichen Todes. Sie rollten dahin, sie rollten immer weiter, sie rollten ohne Unterbrechung dahin, das Elend dieser Welt mit sich führend, auf dem Wege zu einem heiligen Wahne, der Gesundheit der Kranken und dem Troste der Niedergedrückten.
Pierres Herz floß über von unendlichem Mitleid. Es war traurig, zu sterben.
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