Menschliches, Allzumenschliches

Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches
- Ein Buch für freie Geister -
Reihe Klassiker
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By: Internet-Edition
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INHALT
> An Stelle einer Vorrede
> Vorrede
> Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen
> Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen
Empfindungen
> Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben
> Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und
Schriftsteller
> Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Kultur
> Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr
> Siebentes Hauptstück. Weib und Kind
> Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat
> Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein
> Unter Freunden. Ein Nachspiel
> Verlinkte Übersicht über alle Sentenzen
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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
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Erster Band
An Stelle einer Vorrede
Eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es ist nicht nötig, hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen Teil mir nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heißt: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen.
Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urteile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann; zudem ließ mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hilfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewicht und durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr nichts mehr antun konnten.
Aus dem Lateinischen des Cartesius
[Inhalt]
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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
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Vorrede
1. Menschlich-Allzumenschlich?
Es ist mir oft genug und immer mit großem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der “Geburt der Tragödie” bis zum letzthin veröffentlichten “Vorspiel einer Philosophie der Zukunft”: sie enthielten allesamt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermutigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien?
Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Mutes, ja der Verwegenheit.
In der Tat, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdacht in die Welt gesehen hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen errät, die in jedem tiefen Verdacht liegen, etwas von den Frösten und Ängsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurteilt, wird auch verstehen, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten musste (und was haben Dichter je anderes getan? Und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nötigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei “Kunst”, mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauers blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; ebenso dass ich mich über Richard Wagners unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; ebenso über die Griechen, ebenso über die Deutschen und
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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
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ihre Zukunft - und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher?
Gesetzt aber den Fall, dies alles wäre wahr und mit gutem Grund mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbsterhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbstbetrug enthalten ist, und wie viel Falschheit mir noch notwendig ist, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf? … Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der Täuschung … aber nicht wahr? Da beginne ich bereits wieder und tue, was ich immer getan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, außermoralisch, “jenseits von Gut und Böse”?
[Inhalt]
2. Freie Geister
So habe ich denn einstmals, als ich es nötig hatte, mir auch die “freien Geister” erfunden, denen dieses schwermütig-mutige Buch mit dem Titel
“Menschliches, Allzumenschliches” gewidmet ist: dergleichen “freie Geister” gibt es nicht, gab es nicht, aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nötig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Untätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde.
Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Übermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht tue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich im Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehen, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe?
[Inhalt]
3. Große Loslösung
Man darf vermuten, dass ein Geist, in dem der Typus “freier Geist”
einmal bis zur Vollkommenheit reif und süß werden soll, sein entscheidendes Ereignis in einer großen Loslösung gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine
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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
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Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? Welche Stricke sind beinahe unzerreißbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heiligtum, wo sie anbeten lernten, ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten.
Die große Loslösung kommt für solchermaßen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, sie selbst versteht nicht, was sich begibt.
Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fort zu gehen, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. “Lieber sterben als hier leben”
- so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies “hier”, dies “zu Hause” ist alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen das, was ihr “Pflicht” bedeutete, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stoßendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Glut der Scham über das, was sie eben tat, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es tat, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verrät - ein Sieg? Über was? Über wen? Ein rätselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: -
dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der großen Loslösung.
Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbstwertschätzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreißt, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehen, wenn man sie umkehrt.
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