Aus diesem - der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit - folgt nach seiner Meinung das Gegenteilige, die Sphäre der strengen Kausalität, Notwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmut beziehe sich zwar scheinbar auf das Gegenteil - insofern sei er irrtümlich -, in Wahrheit aber auf das, welches die Tat eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums sei; der Mensch werde das, was er werden wolle, sein Wollen sei früher als seine Existenz.
Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Tatsache des Unmutes die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmutes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Konsequenz der sogenannten intellektuellen Freiheit. Aber der Unmut nach der Tat braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrtümlichen Voraussetzung, dass die Tat eben nicht notwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse.
Überdies ist dieser Unmut etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwicklung der Sitte und Kultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnismäßig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. Niemand ist für seine Taten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.
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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
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40. Das Über-Tier.
Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrtümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Tier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat deshalb einen Hass gegen die der “Tierheit” näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sklaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist.
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41. Der unveränderliche Charakter.
Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heißt dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrtümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.
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42. Die Ordnung der Güter und die Moral.
Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-Sein oder Unmoralisch-Sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maßstabe einer früheren Kultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. “Unmoralisch”
bezeichnet also, dass einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilige neue Kultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach.
Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspunkten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei.
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43. Grausame Menschen als zurückgeblieben.
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