Noch wehte der Danebrog von der schlanken Spitze des wolkenhohen Schonermastes, die Flaggenschnur war verbrannt, er flatterte wild, als schlüge er kampfbereit die roten Schwingen; aber die Flammen strichen in wilder Lohe darüber hin, und ohne Steuer und ohne Lenker trieb jetzt das rauchgeschwärzte Schiff dahin, tot und willenlos, ein Spielball der Winde und der Wogen des Strandes.

Niels Fahrzeug wollte nicht so gut brennen; das Pulver hatte zwar gefangen, und der dichte Rauch war aufgestiegen, aber das war auch alles, und das genügte nicht.

»Hallo, ihr Männer!« rief Niels von der Landzunge aus, »bohrt das Schiff in den Grund! schießt mit den Steuerbordkanonen durch die Achterluken!« In demselben Augenblick bückte er sich nach einem Stein: »Gebt Feuer!« und der Stein entflog seiner Hand.

Erik und Frithjof waren auch nicht träge, und so war denn das Fahrzeug bald zertrümmert, und Eriks Wrack ebenfalls.

Sorgfältig wurden die Trümmer ins Trockene gebracht, denn nun sollte ein Scheiterhaufen angezündet werden.

Aus den Schiffstrümmern, aus trockenem Tang und welkem Gras war denn auch bald ein brennender, qualmender Haufen aufgeschichtet, und die kleinen Kieselsteine und Muscheln, die sich im Tang befanden, knackten und sprangen lustig in der starken Hitze.

Eine Zeitlang saßen die Knaben regungslos vor dem Scheiterhaufen, aber plötzlich sprang der noch immer finstere Niels auf und holte seine sämtlichen Sachen aus dem Wrack, zerbrach sie in kleine Stücke und warf diese ins Feuer. Dann holte Erik die seinen, und auch Frithjof holte etliches herbei. Nun schlugen die Flammen des Opferfeuers hoch in die Luft. Erik aber fürchtete, daß man den Schein möglicherweise vom Felde aus sehen könne, deswegen fing er an, das Feuer mit feuchtem Tang zu dämpfen, während Niels ruhig dastand und schwermutsvoll dem am Strande dahintreibenden Rauch nachstarrte. Frithjof hielt sich ein wenig entfernt von den anderen und summte einen Heldengesang vor sich hin, den er hin und wieder heimlich mit wilden Bardengriffen in die Saiten einer unsichtbaren Harfe begleitete.

Allmählich erlosch das Feuer, und Erik und Frithjof gingen heimwärts, während Niels zurückblieb, um das Wrack zu schließen. Als das geschehen war, sah er sich sorgfältig nach den anderen um und warf dann den Schlüssel mit dem Bande weit hinaus ins Meer. Erik, der sich gerade in dem Augenblick umwandte, sah den Schlüssel fallen, aber hastig drehte er den Kopf um und fing an, mit Frithjof um die Wette zu laufen.

Am nächsten Tage reiste er ab.

In der ersten Zeit wurde Erik schmerzlich vermißt, denn für die beiden Zurückbleibenden war alles gleichsam stehen geblieben. Das Leben hatte sich nach und nach unter der Voraussetzung gestaltet, daß drei da waren, um es zu leben. Drei, das war Gesellschaft, Abwechslung, Mannigfaltigkeit – zwei, das war Einsamkeit, und nichts weiter. Was in aller Welt sollten sie nun anfangen?

Konnten etwa zwei nach der Scheibe schießen oder Ball spielen? Sie konnten Robinson Crusoe und Freitag sein; ja, das konnten sie, wer aber sollte die Wilden vorstellen?

Und diese Sonntage! Niels war so lebensüberdrüssig, daß er erst anfing, zu repetieren, und dann mit Hilfe von Herrn Bigums großem Atlas seine geographischen Kenntnisse weit über die vorgeschriebenen Grenzen bereicherte. Schließlich begann er, die ganze Bibel durchzulesen und ein Tagebuch zu führen; Frithjof dagegen suchte in seiner völligen Verlassenheit einen entwürdigenden Trost darin, daß er mit seinen Schwestern spielte.

Allmählich trat die Vergangenheit mehr in den Hintergrund, und die Sehnsucht wurde milder; sie kam wohl noch an stillen Abenden, wenn das Sonnenrot die Wände der einsamen Kammer beleuchtete, das ferne, einförmige Rufen des Kuckucks verstummte und das Schweigen noch tiefer und größer wurde – dann konnte die Sehnsucht kommen und alles reizlos machen und sich erschlaffend auf die Sinne legen; aber sie schmerzte nicht mehr, sie kam so leise, sie ließ sich so sanft herab, daß sie bald süß war, wie ein gestillter Schmerz.

Ebenso verhielt es sich mit den Briefen. Im Anfang waren sie voller Klagen, voller Fragen und Wünsche, die sich lose aneinander reihten; aber mit der Zeit wurden sie länger, beschäftigten sich mehr mit dem Äußeren und erzählten, und dann waren sie stilvoll, sauber geschrieben, und es lag eine gewisse Freude darin, daß man die Gefühle so gut zwischen den Zeilen verbergen konnte.

Es war ja auch ganz natürlich, daß jetzt wieder manches zum Vorschein kam, was sich während Eriks Anwesenheit nicht ans Tageslicht gewagt hatte. Die Schwärmerei streute ihre Flitterblumen in die langweilige Stille des ereignislosen Lebens herab, die Traumluft legte sich über die Sinne, reizte und zehrte mit ihrem Duft des des Lebens und dem feinen, im Tode verborgenen Gift ihrer lebensdurstigen Ahnungen.

Und so wächst denn Niels allmählich heran, und alle Kindheitseinflüsse hinterlassen ihre Spuren in dem weichen Ton, alles bildet, alles hat Bedeutung, das Wirkliche wie das nur Geträumte, das Gewußte und das Geahnte, das hinterläßt alles seine leichten, aber sichergezogenen Linien, welche noch entwickelt und vertieft werden und dann abgerundet und ausgelöscht werden sollen.

 

Sechstes Kapitel.

 

»Studiosus Lyhne – Frau Boye; Studiosus Frithjof Petersen – Frau Boye.«

Es war Erik, der vorstellte, und zwar in Mikkelsens Atelier, einem großen, hellen Raume mit gestampftem Lehmboden und einer Höhe von zwölf Ellen, mit zwei großen Türen nach außen in der einen Wand und mehreren kleinen Türen im Hintergrunde, die zu den einzelnen Ateliers führten. Alles da drinnen war grau von Lehm-, Gips- und Marmorstaub. Der Staub hatte die Fäden der Spinnengewebe an der Decke so dick gemacht wie Segelgarn und eine Flußkarte auf die großen Fensterscheiben gezeichnet; er lag in den Augen, Mündern und Nasen, in den Muskelvertiefungen, in den Locken und den Gewändern der unzähligen Gipsabgüsse, die sich wie ein Fries von der Zerstörung Jerusalems auf langen Borten an den Wänden des ganzen Zimmers entlang zogen, und die Lorbeerbäume in den Ecken an den Türen, die hohen Lorbeerbäume hatte er derartig gepudert, daß sie grauer aussahen als die grauesten Oliven.

Erik stand mitten im Zimmer und modellierte mit einer Papiermütze auf dem dunkeln, leicht gelockten Haar; er hatte einen Schnurrbart bekommen und sah ganz männlich aus gegen seine blassen, examensmüden Freunde, die einen so wohlerzogenen, provinzmäßigen Eindruck machten in ihren funkelnagelneuen Kleidern, dem zu kurz geschnittenen Haar und den weiten Studentenmützen.

In geringer Entfernung von Eriks Gerüst saß Frau Boye auf einem niedrigen, hochlehnigen Holzstuhl, ein elegant gebundenes Buch in der einen, ein Stückchen Ton in der anderen Hand haltend. Sie war klein, ein wenig zu klein und leicht brünett, mit klaren, braunen Augen und leuchtend weißem Teint, der im Schatten der Rundungen goldig matt wurde und wunderbar zu dem glanzvollen Haar stimmte, dessen Dunkel im Licht einen Ton bräunlichgebrannter Blondheit annahm.

Sie lachte, als die zwei Jünglinge kamen, wie ein Kind lachen kann, so erquickend lange und lustig laut, so fröhlich frei, und es lag auch der strahlende Blick eines Kindes in ihren Augen, das unüberlegte Lächeln eines Kindes um ihren Mund, der noch kindlicher erschien, weil die Oberlippe so kurz war, daß sie die milchweißen Zähne fast niemals verbarg und den Mund fast immer ein wenig geöffnet ließ.

Aber sie war kein Kind mehr. War sie wohl einige dreißig Jahre alt? Die volle Form des Kinnes sagte nicht nein, ebensowenig wie das reife Rot der Unterlippe, und ihr Wuchs war voll mit festen Formen, die stark hervorgehoben wurden durch ein dunkelblaues Kleid, das sie stramm umschloß wie die Jacke eines Reitkleides. Um ihren Hals und auf den Schultern lag in reichen Falten ein dunkles, blutrotes seidenes Tuch, dessen Enden in dem herzförmigen Ausschnitt des Kleides verschwanden, und im Haar trug sie Nelken von der Farbe des Tuches.

»Ich fürchte, wir haben Sie in einer angenehmen Lektüre gestört«, meinte Frithjof mit einem Blick auf das schöngebundene Buch.

»Nicht im geringsten; ach nein, über das, was wir gelesen haben, zanken wir uns nun bereits eine ganze Stunde, antwortete Frau Boye und sah Frithjof mit großen Augen an. Herr Erik Refstrup ist so ein Idealist in allen Fragen der Kunst, und ich finde es nun einmal so langweilig, dies Predigen von der rohen Wirklichkeit, die geläutert werden soll und geklärt und wiedergeboren, und wie es sonst noch heißt, bis schließlich nichts mehr übrigbleibt. Tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie einmal die Bacchantin von Mikkelsen an, die der faule Traffelini da hinten in Marmor aushaut, wenn ich die in einem beschreibenden Kataloge anführen sollte – du gütiger Himmel! Nr. 77. Eine junge Dame in Negligee steht nachdenklich auf beiden Beinen und weiß nicht recht, was sie mit der Weintraube anfangen soll. Wenn ich etwas zu sagen hätte, müßte sie die Traube zerquetschen, so richtig zerquetschen, daß der rote Saft ihr über die Brust herabliefe, wie? Nicht wahr? Habe ich nicht recht?« Und in kindlichem Eifer ergriff sie Frithjofs Arm und rüttelte ihn förmlich.

»Ja,« räumte Frithjof ein, »ja, das muß ich allerdings sagen, es fehlt das – Frische, Unmittelbare.«

»Das Natürliche fehlt, und du großer Gott, warum können wir denn nun nicht natürlich sein? Ach, ich weiß es ja so gut, es fehlt uns nur an Mut. Weder die Künstler noch die Dichter haben den Mut, die Menschen zu zeigen, wie sie sind, nur Shakespeare allein besaß diesen Mut!«

»Ja, das wissen Sie recht gut,« sagte Erik hinter seiner Figur vor, »mit Shakespeare kann ich nicht gut fertig werden, er macht mir zu viel Wesens davon, er jagt mit einem herum, daß man schließlich nicht mehr weiß, woran man ist.«

»Das möchte ich doch nicht sagen,« versetzte Frithjof tadelnd; »aber,« fügte er mit entschuldigendem Lächeln hinzu, »ich kann freilich die Berserkerwut des großen britischen Dichters keinen wirklich bewußten, verständigen Künstlermut nennen!«

»Das können Sie nicht? Großer Gott, wie amüsant Sie sind!« und sie lachte, so laut sie nur konnte, indem sie aufstand und in das Atelier ging. Plötzlich wandte sie sich um, streckte die Arme nach Frithjof aus und rief: »Gott segne Sie!« und dabei krümmte sie sich vor Lachen fast bis zur Erde.

Frithjof war nahe daran, sich beleidigt zu fühlen, aber es war so unbequem, erzürnt fortzugehen, außerdem hatte er ja vollkommen recht mit dem, was er gesagt hatte, und dann war Frau Boye ja so wunderhübsch. Er blieb also und knüpfte ein Gespräch mit Erik an, indem er, sich in Gedanken stets zu ihr hinwendend, bemüht war, einen Ausdruck reifer Nachsicht in seine Stimme zu legen.

Frau Boye stöberte inzwischen in dem anderen Ende des Ateliers umher, sie summte nachdenklich eine Melodie vor sich hin, schlug zwischendurch wohl einmal einige helle Triller an, die wie fröhliches Gelächter klangen, oder sie ging langsam zu einem feierlichen Rezitativ über.

Auf einer großen hölzernen Kiste stand ein jugendlicher Augustuskopf; von diesem wischte sie den Staub ab, suchte sie dann etwas Ton und formte daraus einen Schnurrbart und einen Kinnbart für den Kopf, auch Ringe, die sie ihm an den Ohren befestigte.

Während sie noch damit beschäftigt war, hatte sich Niels ihr unter dem Vorwande, die auf dem Boden stehenden Abgüsse zu betrachten, langsam genähert. Sie hatte keinen Augenblick nach der Richtung hingesehen, in welcher er sich befand, aber sie mußte ihn doch in der Nähe wissen, denn ohne sich umzuwenden streckte sie die Hand nach ihm aus und bat ihn, Eriks Hut zu holen.

Niels gab ihr den Hut in die noch immer ausgestreckte Hand, sie nahm ihn und setzte ihn auf den Augustuskopf.

»Du altes Shakespearchen«, sagte sie schmeichelnd und streichelte die Wange der travestierten Büste. »Du alter, dummer Bursche, der nicht wußte, was er tat! Saß so da und kaute an der Feder und schuf einen Hamletkopf, ohne darüber nachzudenken, was er eigentlich tat!« Sie nahm den Hut von dem Kopfe der Büste und ließ die Hand mütterlich über seine Stirn gleiten, als wollte sie ihm das Haar aus den Augen streichen.

»Du alter, erfolggekrönter Bursche! trotz alledem! Du alte, nicht ungeschickte Dichterseele! Denn nicht wahr, Herr Lyhne, das muß man ihm doch wohl eigentlich lassen, er war im Grunde doch ein recht erfolgreicher Literat, dieser Shakespeare!«

»Ja, ich habe nun einmal meine eigene Ansicht über den Mann«, antwortete Niels ein wenig verletzt und errötend.

»Großer Gott, haben Sie auch eine eigene Ansicht über Shakespeare! Und welche ist denn das, wenn ich fragen darf? Sind Sie für oder gegen uns?« Und damit stellte sie sich neben die Büste und schlang ihren Arm um ihren Nacken.

»Ich kann nicht sagen, ob meine Ansicht, von der Sie so überrascht sind, daß ich sie überhaupt besitze, so glücklich ist, dadurch an Bedeutung zu gewinnen, daß sie mit der Ihren übereinstimmt; aber ich glaube wohl, daß ich sagen darf, sie ist für Sie und Ihren Schützling. Jedenfalls ist das meine Ansicht, daß er wußte, was er tat, daß er erwog, was er tat, und daß er wagte, was er tat. Oftmals unternahm er das Wagestück voller Zweifel, und man kann noch heute diese Zweifel deutlich erkennen, oftmals wagte er auch nur halb und verlöschte das, was er nicht stehen zu lassen wagte, durch neue Züge.«

Und in dieser Weise redete Niels weiter.

Während er sprach, wurde Frau Boye allmählich unruhig, sie blickte nervös bald nach der einen, bald nach der anderen Seite und spielte ungeduldig mit den Fingern, während ein bekümmerter und schließlich ein leidender Ausdruck ihr Gesicht mehr und mehr verdunkelte.

Am Ende konnte sie sich nicht länger bezwingen.

»Vergessen Sie nicht, was Sie sagen wollten!« bat sie, »aber ich flehe Sie an, Herr Lyhne, lassen Sie das mit der Hand, diese Bewegung, als wenn Sie Zähne ausziehen wollten.