»Laß uns nur fest zusammenhalten,
Paul!« sagte sie leise.
- - Und siehst du! Damit und mit ehrlicher Arbeit sind wir durchgekommen.
- - Als wir am andern Morgen aufgestanden waren, da fanden wir
jenes Schimpfwort »Pole Poppenspäler« - denn ein
Schimpfwort sollte es ja sein - mit Kreide auf unsere Haustür
geschrieben. Ich aber habe es ruhig ausgewischt, und als es dann
später noch ein paarmal an öffentlichen Orten wieder
lebendig wurde, da habe ich einen Trumpf daraufgesetzt; und weil
man wußte, daß ich nicht spaße, so ist es danach
still geworden. - - Wer dir es jetzt gesagt hat, der wird nichts
Böses damit gemeint haben; ich will seinen Namen auch nicht
wissen.
Unser Vater Joseph aber war seit jenem Abend nicht mehr der alte.
Vergebens zeigte ich ihm die unlautere Quelle jenes Unfugs und
daß derselbe ja mehr gegen mich als gegen ihn gerichtet
gewesen sei. Ohne unser Wissen hatte er bald darauf alle seine
Marionetten auf eine öffentliche Auktion gegeben, wo sie
zum Jubel der anwesenden Jungen und Trödelweiber um wenige
Schillinge versteigert waren; er wollte sie niemals wiedersehen. -
Aber das Mittel dazu war schlecht gewählt; denn als die Frühlingssonne
erst wieder in die Gassen schien, kam von den verkauften Puppen
eine nach der andern aus den dunkeln Häusern an das Tageslicht.
Hier saß ein Mädchen mit der heiligen Genoveva auf
der Haustürschwelle, dort ließ ein Junge den Doktor
Faust auf seinem schwarzen Kater reiten; in einem Garten in der
Nähe des Schützenhofes hing eines Tages der Pfalzgraf
Siegfried neben dem höllischen Sperling als Vogelscheuche
in einem Kirschbaum. Unserem Vater tat die Entweihung seiner Lieblinge
so weh, daß er zuletzt kaum noch Haus und Garten bei uns
verlassen mochte. Ich sah es deutlich, daß dieser übereilte
Verkauf an seinem Herzen nagte, und es gelang mir, die eine und
die andere Puppe zurückzukaufen; aber als ich sie ihm brachte,
hatte er keine Freude daran; das Ganze war ja überdies zerstört.
Und, seltsam, trotz aller aufgewendeten Mühe konnte ich nicht
erfahren, in welchem Winkel sich die wertvollste Figur von allen,
der kunstreiche Kasperl, verborgen halte. Und was war ohne ihn
die ganze Puppenwelt!
Aber vor einem andern, ernsteren Spiel sollte bald der Vorhang
fallen. Ein altes Brustleiden war bei unserem Vater wieder aufgewacht,
sein Leben neigte sich augenscheinlich zu Ende. Geduldig und voll
Dankbarkeit für jeden kleinen Liebesdienst lag er auf seinem
Bette. »Ja, ja«, sagte er lächelnd und hob so heiter
seine Augen gegen die Bretterdecke des Zimmers, als sähe
er durch dieselbe schon in die ewigen Fernen des Jenseits, »es
is scho richtig g'wesn: mit den Menschen hab' ich nit immer könne
firti werd'n; da drobn mit den Engeln wird's halt besser gehn;
und - auf alle Fäll, Lisei, i find ja doch die Mutter dort.«
- - Der gute kindliche Mann starb; Lisei und ich, wir haben ihn
bitterlich vermißt; auch der alte Heinrich, der ihm nach
wenigen Jahren folgte, ging an seinen noch übrigen Sonntagnachmittagen
umher, als wisse er mit sich selber nicht wohin, als wolle er
zu einem, den er doch nicht finden könne.
Den Sarg unseres Vaters bedeckten wir mit allen Blumen des von
ihm selbst gepflegten Gartens; schwer von Kränzen wurde er
auf den Kirchhof hinausgetragen, wo unweit von der Umfassungsmauer
das Grab bereitet war. Als man den Sarg hinabgelassen hatte, trat
unser alter Propst an den Rand der Gruft und sprach ein Wort des
Trostes und der Verheißung; er war meinen seligen Eltern
stets ein treuer Freund und Rater gewesen; ich war von ihm konfirmiert,
Lisei und ich von ihm getraut worden. Ringsum auf dem Kirchhofe
war es schwarz von Menschen; man schien von dem Begräbnisse
des alten Puppenspielers noch ein ganz besonderes Schauspiel zu
erwarten. - Und etwas Besonderes geschah auch wirklich; aber es
wurde nur von uns bemerkt, die wir der Gruft zunächst standen.
Lisei, die an meinem Arme mit hinausgegangen war, hatte eben krampfhaft
meine Hand gefaßt, als jetzt der alte Geistliche dem Brauche
gemäß den bereitgestellten Spaten ergriff und die erste
Erde auf den Sarg hinabwarf. Dumpf klang es aus der Gruft zurück.
»Von der Erden bist du genommen!« erscholl jetzt das
Wort des Priesters; aber kaum war es gesprochen, als ich von der
Umfassungsmauer her über die Köpfe der Menschen etwas
auf uns zufliegen sah. Ich meinte erst, es sei ein großer
Vogel; aber es senkte sich und fiel grade in die Gruft hinein.
Bei einem flüchtigen Umblick - denn ich stand etwas erhöht
auf der aufgeworfenen Erde - hatte ich einen der Schmidt-Jungen
sich hinter die Kirchhofmauer ducken und dann davonlaufen sehen,
und ich wußte plötzlich, was geschehen war. Lisei hatte
einen Schrei an meiner Seite ausgestoßen, unser alter Propst
hielt wie unschlüssig den Spaten zum zweiten Wurfe in den
Händen. Ein Blick in das Grab bestätigte meine Ahnung:
oben auf dem Sarge, zwischen den Blumen und der Erde, die zum
Teil sie schon bedeckte, da hatte er sich hingesetzt, der alte
Freund aus meiner Kinderzeit, Kasperl, der kleine lustige Allerweltskerl.
- Aber er sah jetzt gar nicht lustig aus; seinen großen
Nasenschnabel hatte er traurig auf die Brust gesenkt; der eine
Arm mit dem kunstreichen Daumen war gegen den Himmel ausgestreckt;
als solle er verkünden, daß, nachdem alle Puppenspiele
ausgespielt, da droben nun ein anderes Stück beginnen werde.
Ich sah das alles nur auf einen Augenblick, denn schon warf der
Probst die zweite Scholle in die Gruft: »Und zur Erde wieder
sollst du werden!« - Und wie es von dem Sarg hinabrollte,
so fiel auch Kasperl aus seinen Blumen in die Tiefe und wurde
von der Erde überdeckt.
Dann mit dem letzten Schaufelwurf erklang die tröstliche
Verheißung: »Und von der Erden sollst du auferstehen!«
Als das Vaterunser gesprochen war und die Menschen sich verlaufen
hatten, trat der alte Propst zu uns, die wir noch immer in die
Grube starrten. »Es hat eine Ruchlosigkeit sein sollen«,
sagte er, indem er liebreich unsere Hände faßte. »Laßt
uns es anders nehmen! In seiner Jugendzeit, wie ihr es mir erzähltet,
hat der selige Mann die kleine Kunstfigur geschnitzt, und sie
hat einst sein Eheglück begründet; später, sein
ganzes Leben lang, hat er durch sie, am Feierabend nach der Arbeit,
gar manches Menschenherz erheitert, auch manches Gott und den
Menschen wohlgefällige Wort der Wahrheit dem kleinen Narren
in den Mund gelegt; - ich habe selbst der Sache einmal zugeschaut,
da ihr noch beide Kinder waret. - Laßt nur das kleine Werk
seinem Meister folgen; das stimmt gar wohl zu den Worten unserer
Heiligen Schrift! Und seid getrost; denn die Guten werden ruhen
von ihrer Arbeit.«
- Und so geschah es. Still und friedlich gingen wir nach Hause;
den kunstreichen Kasperl aber, wie unsern guten Vater Joseph,
haben wir niemals wiedergesehen.
- - Alles das«, setzte nach einer Weile mein Freund hinzu,
»hat uns manches Weh bereitet; aber gestorben sind wir beiden
jungen Leute nicht daran. Nicht lange nachher wurde unser Joseph
uns geboren, und wir hatten nun alles, was zu einem vollen Menschenglück
gehört. An jene Vorgänge aber werde ich noch jetzt Jahr
um Jahr durch den ältesten Sohn des schwarzen Schmidt erinnert.
Er ist einer jener ewig wandernden Handwerksgesellen geworden,
die, verlumpt und verkommen, ihr elendes Leben von den Geschenken
fristen, die nach Zunftgebrauch auf ihre Ansprache die Handwerksmeister
ihnen zu verabreichen haben. Auch an meinem Hause geht er nie
vorbei.«
Mein Freund schwieg und blickte vor sich in das Abendrot, das
dort hinter den Bäumen des Kirchhofs stand; ich aber hatte
schon eine Zeitlang über der Gartenpforte, der wir uns jetzt
wieder näherten, das freundliche Gesicht der Frau Paulsen
nach uns ausblicken sehen. »Hab ich's nit denkt!« rief
sie, als wir nun zu ihr traten. »Was habt ihr wieder für
ein Langes abzuhandeln? Aber nun kommt ins Haus! Die Gottsgab
steht auf dem Tisch; der Hafenmeister is auch schon da; und ein
Brief vom Joseph und der alt Meisterin! Aber was schaust mi denn
so an, Bub?«
Der Meister lächelte. »Ich hab ihm was verraten, Mutter.
Er will nun sehen, ob du auch richtig noch das kleine Puppenspieler-Lisei
bist!«
»Ja, freili!« erwiderte sie, und ein Blick voll Liebe
flog zu ihrem Mann hinüber. »Schau nur richti zu, Bub!
Und wenn du es nit kannst find'n - der da, der weiß es gar
genau!«
Und der Meister legte schweigend seinen Arm um sie. Dann gingen
wir ins Haus zur Feier ihres Hochzeitstages.
Es waren prächtige Leute, der Paulsen und sein Puppenspieler-Lisei.
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