»Erst will er die Polizisten zweier Kontinente an der Nase herumführen und dann heimlich nach London zurückkehren.«
»Das werden wir verhindern«, sagte Mr Fix.
»Täuschen Sie sich auch wirklich nicht?«, fragte der Konsul noch einmal.
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel.«
»Und warum war der Bankräuber so sehr auf den Visumstempel in seinem Pass versessen?«
»Das weiß der Himmel, Herr Konsul«, antwortete der Detektiv, »aber vielleicht hören Sie sich einmal an, was ich aus dem Diener des besagten Fogg herausgebracht habe.« Und er erläuterte die wichtigsten Punkte seiner Unterhaltung mit Passepartout.
»Sie haben recht, alles spricht gegen diesen Fogg«, bestätigte der Konsul. »Was werden Sie jetzt unternehmen?«
»Ich schicke ein Telegramm nach London und bitte um Ausstellung eines Haftbefehls für Bombay. Dann schiffe ich mich auf der Mongolia ein und lasse den Kerl nicht mehr aus den Augen. Wenn wir in Indien englisches Hoheitsgebiet erreicht haben, lege ich ihm die Hand auf die Schulter und zeige ihm den Haftbefehl.«
Während dieser Rede umgab Mr Fix ein eisiger Hauch von Amtlichkeit. Er verabschiedete sich sogleich vom Konsul und ging zum Telegrafenamt. Dort gab er das bewusste Telegramm an den Polizeichef von London auf. Nur eine Viertelstunde später fand er sich mit einer leichten Reisetasche und reichlichen Geldmitteln versehen an Bord der Mongolia ein und wenig später ging das schnelle Schiff mit Volldampf auf die Reise über das Rote Meer.
Im neunten Kapitel
begünstigen das Rote Meer und der Indische Ozean
Mr Foggs Vorhaben
Die Entfernung zwischen Sues und Aden beträgt genau 1 310 Meilen und die Schifffahrtsgesellschaft erwartete, dass diese Strecke in 138 Stunden von ihren Postschiffen zurückgelegt wurde. Die Mongolia stand aber so unter Volldampf, dass sie gewiss vor der fahrplanmäßigen Ankunftszeit in Aden eintreffen würde.
Fast alle Passagiere, die in Brindisi an Bord gegangen waren, wollten nach Indien fahren. Manche gaben Bombay als Reiseziel an, andere Kalkutta, das man neuerdings von Bombay aus auf dem Schienenwege erreichen konnte, sodass die bisher notwendige Schiffsreise um die Südspitze Indiens und um Ceylon herum entfiel.
Unter den Reisenden auf der Mongolia befanden sich zahlreiche Zivilbeamte und Offiziere aller Ränge. Ein Teil dieser Offiziere gehörte direkt der britischen Armee an, die anderen befehligten indische Sepoy-Einheiten. An der ausgezeichneten Besoldung beider Gruppen hatte sich nichts geändert, nachdem die britische Regierung in die Rechte der ehemaligen ostindischen Handelskompanie eingetreten war. Ein Leutnant erhielt 280 Pfund, ein Brigadekommandeur 2 400 Pfund und ein General 4 000 Pfund.
Andere Passagiere, meist junge vermögende Engländer, reisten nach Indien, um dort neue Handelsniederlassungen zu gründen.
Entsprechend wurde an Bord der Mongolia gelebt. Der Zahlmeister des Schiffes, der als Vertreter der Reederei dem Kapitän gleichgestellt war, konnte über reichliche Geldmittel verfügen. Zum Frühstück, zum 2-Uhr-Lunch, zum Dinner um 5.30 Uhr nachmittags und zum Abendessen um 8 Uhr bogen sich die Tafeln unter der Fülle der Haupt- und Nebengerichte, die in der Schlachterei und den Küchen der Mongolia bereitet wurden.
Die weiblichen Passagiere – es gab davon eine ganze Anzahl – wechselten zweimal täglich die Garderobe. Man konnte einer Bordkapelle lauschen und bei ruhigem Wellengang sogar tanzen.
Das Rote Meer ist aber wie alle schmalen, lang gestreckten Gewässer launisch und sehr oft unruhig. Wenn der Wind blies – gleichgültig ob von der asiatischen oder der afrikanischen Seite her –, immer rannte er gegen die Längsseite der Mongolia an und das Schiff begann, heftig zu schlingern. Die Damen verschwanden in den Kabinen, die Musik schwieg und Gesang und Tanz wurden abgebrochen. Trotzdem konnten weder starke Windböen noch hoher Seegang das Schiff aufhalten. Mit seinen kräftigen Maschinen dampfte es unaufhaltsam der Meerenge von Bab el-Mandeb entgegen.
Und was trieb Phileas Fogg während dieser Reiseetappe? Man sollte annehmen, dass er voller Unruhe jede Änderung der Windrichtung oder des Wellenganges beobachtete, die ja immerhin zu einem Maschinenschaden, wenn nicht gar zum Schiffbruch der Mongolia führen konnte, sodass die Reise bestenfalls im nächsten Hafen unterbrochen werden musste. Sollte Phileas Fogg dergleichen Möglichkeiten überhaupt erwägen, ließ er sich jedenfalls nichts davon anmerken. Er war immer derselbe kühl zurückhaltende Gentleman, den wir im Reform Club zu London kennenlernten, und er reagierte auf die Außenwelt nicht mehr als die Chronometer an Bord des Schiffes. Man sah ihn selten auf dem Oberdeck der Mongolia. Das geschichtsträchtige Rote Meer, der Schauplatz der ersten historischen Ereignisse in der Menschheitsgeschichte, ließ ihn kalt. Er schenkte den fremdartig bizarren Ortschaften, die hier und da am Horizont auftauchten, keinen einzigen Blick. Ihn schreckten nicht einmal die Gefahren des Arabischen Golfes, von denen schon Strabo, Arrian, Artemidorus und Edrisi, die Geschichtsschreiber der Antike, mit höchstem Respekt sprachen. Schon die Seefahrer des Altertums wussten, warum sie sich hier vor jeder Schiffsreise durch Opfer die Gunst der Götter erkauften.
Der höchst sonderbare Mr Fogg, der sich auf der Mongolia eingeschlossen hatte, war aber dem Anschein zum Trotz durchaus nicht unbeschäftigt. Zunächst einmal speiste er viermal täglich; denn seinen präzise funktionierenden Organismus konnte kein Schlingern und kein Stampfen eines Schiffes aus dem Gleichgewicht bringen. Außerdem spielte er Whist.
Wir haben richtig gehört: Er spielte Whist wie eh und je und selbst seine neuen Partner waren nicht weniger spielbesessen als er selbst. Einer der Herren war ein Steuereinnehmer, der seine Stellung in Goa antreten sollte, der zweite war Geistlicher – er nannte sich Reverend Decimus Smith –, der dritte Partner, ein Brigadegeneral der britischen Armee, kehrte zu seiner Truppeneinheit in Benares zurück. Die drei Herren waren, wie gesagt, ebenso leidenschaftliche Whist-Spieler wie Mr Fogg und so spielten sie stundenlang, ohne mehr als das Nötigste zu sprechen.
Passepartout hatte eine Kabine im Bug. Er blieb glücklicherweise von der Seekrankheit verschont, sodass er die herrlichen Speisen voll genießen konnte.
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