Oktober 1872, um 11 Uhr 29 Minuten vormittags, beginnen.«

Bei diesen Worten erhob sich Phileas Fogg aus dem Sessel, vollführte eine eckige Armbewegung, um den bereitliegenden Hut aufzusetzen, und verließ grußlos den Salon.

Kurz darauf hörte Passepartout die Haustür ins Schloss fallen; sein neuer Herr ging aus. Noch einmal klappte die Tür; sein Vorgänger James Forster verließ die Nr. 7 der Savile Row.

Passepartout war allein im Hause.

Im zweiten Kapitel

gelangt Passepartout zu der Überzeugung,
das große Los gezogen zu haben

Manche Leutchen bei Madame Tussaud sind genauso lebendig wie dieser Mister Fogg«, stellte Passepartout kopfschüttelnd fest.

Der Leser muss dazu wissen, dass er mit den »Leutchen« die Wachsfiguren im viel besuchten Kabinett der Madame Tussaud meinte. Sie wirken verblüffend lebensecht und zur Vollkommenheit fehlt ihnen lediglich die Sprache.

Bei der vorangegangenen Unterredung mit Mr Fogg hatte Passepartout eine rasche, aber darum nicht weniger gründliche Bestandsaufnahme seines neuen Herrn gemacht. Phileas Fogg mochte etwa 40 Jahre alt sein. Er hatte vornehme Gesichtszüge und eine hochgewachsene Gestalt, die zur Wohlbeleibtheit neigte, was dem Gesamteindruck aber nicht abträglich war. Haare und Backenbart waren blond, die Stirn makellos und selbst zu den Schläfen hin noch faltenlos, die Gesichtsfarbe blass und die Zähne prachtvoll. Um einen Ausdruck der Physiognomiker zu gebrauchen: Mr Fogg verkörperte den »ruhend Aktiven«, der ganz im Stillen Bedeutendes zu leisten vermag. Diesen ruhigen, phlegmatischen und wohl auch kaltblütigen Typ trifft man nicht eben selten im Vereinigten Königreich von Großbritannien. Die Malerin Angelika Kauffmann hat seine ein wenig steife Haltung meisterhaft mit dem Pinsel erfasst.

Phileas Fogg glich einem Chronometer aus den Werkstätten von Leroy oder Earnshaw; so präzise und ausgewogen war jede seiner Bewegungen, jede seiner Handlungen. Beobachtete man seine Hand- und Fußhaltung, die bei Mensch und Tier Rückschlüsse auf den Charakter gestattet, so kam man zu dem Resultat, Mr Fogg sei die Genauigkeit in Person.

Er gehörte zu jenen ökonomischen Typen, die sich nie beeilen, aber im rechten Augenblick zur Stelle sind. Seine eigentümlich sparsamen Bewegungen vermieden jeden überflüssigen Schritt und ließen ihn stets den kürzesten aller möglichen Wege wählen. Ob er jemals Freude oder Kummer empfand, war nicht festzustellen. Wir verstehen jetzt jedenfalls besser, warum er allein und außerhalb gesellschaftlicher und familiärer Bindungen leben wollte. Das Zusammenleben mit Menschen führt unweigerlich zu Reibungen; Reibungen aber bedeuten Aufenthalt, Verzögerung – also vermied er es, sich an jemandem zu reiben.

So viel zunächst über den Herrn und nun ein paar Worte über seinen Diener. Jean, genannt Passepartout, der echte Pariser aus Paris, hatte während der vergangenen fünf Jahre noch keinen passenden Herrn gefunden. Dabei glich er keineswegs den Dienertypen der Komödie, die trotz ausgeprägtem Selbstbewusstsein nur freche Nichtsnutze sind. Oh nein! Passepartout war ein tüchtiger junger Mann von angenehmem Aussehen, stets freundlich und auch arbeitswillig. Auf seinen Schultern saß ein kugelrunder Kopf, wie man ihn gern bei einem Freunde sieht, und seine aufgeworfenen Lippen waren stets bereit, zu kosten und zu kosen. Blaue Augen blitzten über frischen roten Backen, die so prall waren, dass ihr Besitzer sie selber sehen konnte, wenn er den Blick niederschlug. Der mächtige Brustkorb des Mannes, die ganze muskulöse Gestalt verrieten herkulische Kräfte, die von Jugend an in den verschiedensten Berufen hervorragend entwickelt und gesteigert worden waren.

Auf dem Haupte sah Passepartout ein wenig wild aus. Mochten die Bildhauer der Antike auch 18 verschiedene Haartrachten zum Schmucke Minervas ersonnen haben, der junge Mann kannte nur eine. Er fuhr jeweils dreimal mit dem Kamm durch sein braunes Haar und ließ es dabei bewenden.

Ob dieser ausgesprochen mitteilsame Diener mit seinem Herrn gut auskommen würde, ließ sich beim besten Willen nicht voraussehen. Die Praxis musste auch erst den Beweis erbringen, dass Passepartout Mr Foggs Anforderungen in puncto Genauigkeit gewachsen war. Jedenfalls strebte der junge Mann nach bewegten Jugendjahren in einen stillen Hafen. Er hatte in seiner Heimat den englischen Sinn für Korrektheit und die fast sprichwörtliche Frostigkeit des Gentleman loben hören und daraufhin beschlossen sein Heil in England zu suchen. Doch war er bis jetzt vom Pech verfolgt gewesen und hatte nirgends Wurzeln fassen können. Sooft er auch die Stellung gewechselt hatte – und das war immerhin zehnmal passiert –, immer wieder geriet er an einen grillenhaften oder launischen, wenn nicht sogar abenteuerhungrigen oder reisewütigen Herrn, der so gar nicht seinen Wünschen entsprach. Sein letzter Brotgeber, Lord Longsferry, war Mitglied des Parlaments, was den jungen Herrn nicht hinderte die Abende in den Austern-Stuben am Haymarket zu verbringen und den Heimweg nur allzu oft in den Armen hilfreicher Polizisten zurückzulegen. Passepartout aber ersehnte sich einen Herrn, den er achten konnte.