Die Lektüre dieser Zeitung dauerte bis 3 Uhr und 45 Minuten. Die daran anschließende Durchsicht des Standard zog sich bis zum Dinner hin.

Die Speisenfolge dieser Mahlzeit unterschied sich kaum von der des Frühstücks, nur dass zusätzlich eine Royal British Sauce gereicht wurde.

Um 5.40 Uhr nachmittags kehrte Phileas Fogg in den großen Salon zurück, um die Morning Chronicle zu lesen.

Eine halbe Stunde später betraten mehrere Club-Mitglieder den Raum und scharten sich um den Kamin, in dem ein Steinkohlenfeuer unterhalten wurde. Bei den Herren handelte es sich um Mr Foggs Whist-Partner, die allesamt passionierte Spieler waren. Zu der Gesellschaft zählten der Ingenieur Andrew Stuart, die Bankiers John Sullivan und Samuel Fallentin, der Brauereibesitzer Thomas Flanagan und Gauthier Ralph vom Direktorium der Bank von England. Diese fünf Männer waren wegen ihres Reichtums und ihrer Stellung hoch geachtete Club-Mitglieder, was etwas heißen will, denn im Reform Club versammelten sich ohnehin nur die Spitzen der englischen Industrie und Finanzwirtschaft.

»Nun, Ralph«, begann Thomas Flanagan das Gespräch, »was hört man Neues von unserem Dieb?«

»Die Bank von England wird das Geld kaum wiedersehen«, warf Andrew Stuart ein.

»Da bin ich anderer Ansicht«, entgegnete Gauthier Ralph. »Wir glauben doch, dass man den Mann fassen wird. Schließlich halten unsere besten Kriminalbeamten alle wichtigen Häfen Amerikas und Europas unter Beobachtung.«

»Demnach gibt es eine Personenbeschreibung des Diebes?«, fragte Andrew Stuart.

»Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Dieb handelt«, sagte Gauthier Ralph ernst.

»Wie bitte? Der Kerl, der die 55 000 Pfund eingesteckt hat, sollte kein gewöhnlicher Dieb sein?«

»Nein«, antwortete Gauthier Ralph.

»Ist er vielleicht Industrieller?«, fragte John Sullivan.

»Die Morning Chronicle versichert, dass es sich um einen Mann mit dem Auftreten eines Gentlemans handele.«

Diesen Bescheid erteilte Mr Fogg, dessen Kopf langsam aus einem großen Berg von Zeitungsblättern auftauchte. Jetzt erst fand die Begrüßung zwischen ihm und seinen Whist-Partnern statt.

Der Diebstahl, der in allen Zeitungen des Vereinigten Königreiches lebhaft diskutiert wurde, hatte sich vor drei Tagen, also am 29. September, zugetragen. Ein Bündel Banknoten im Wert von nicht weniger als 55 000 Pfund war vom Zahltisch des Hauptkassierers der Bank von England entwendet worden.

Wenn jemand erstaunt fragte, wieso eine derartig große Summe ohne die geringsten Schwierigkeiten gestohlen werden konnte, begnügte sich Gauthier Ralph, der Zweite Direktor der Bank, mit der Erklärung, der Kassierer habe gerade einen Zahlungseingang von drei Shilling und einem Sixpence eingetragen. Man könne schließlich nicht verlangen, dass er die Augen überall habe.

Wir müssen vielleicht hinzufügen, dass dieses hoch achtbare Bankinstitut der Wohlanständigkeit seines Publikums uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachte. Es gab kein Wachpersonal, keine Invaliden als Aushilfswächter, keine Gitter vor den Schaltern. Gold, Silber und Banknoten lagen offen da und ihr Schicksal hing von der Ehrlichkeit der Kundschaft ab. Und ebendiese Ehrlichkeit zweifelte man nicht im Traume an. Einer der schärfsten Beobachter englischer Sitten berichtet sogar folgende hübsche Geschichte: Eines Tages lag vor ihm auf einem der Zahltische der Bank ein Goldbarren von sieben bis acht Pfund Gewicht, der seine Neugier erweckte. Um ihn besser betrachten zu können, nahm er ihn in die Hand, reichte ihn sogar seinem Nachbarn, der ihn wiederum weitergab, bis er schließlich in einen der dunklen Korridore der Bank gelangte, um von dort nach Verlauf einer halben Stunde wieder zum Zahltisch zurückzukehren, ohne dass der Kassierer auch nur einmal deswegen den Kopf gehoben hätte.

Am 29. September war die Sache allerdings etwas anders verlaufen. Diesmal kehrte das Banknotenbündel nicht an seinen Platz zurück, und als die viel bewunderte Uhr im Kassenraum 5 Uhr schlug und die Schließung der Schalter ankündigte, musste die Bank von England 55 000 Pfund als Verlust abbuchen.

Als kein Zweifel mehr an dem Diebstahl bestand, wurden die besten Detektive über alle wichtigen Hafenstädte der Welt verteilt. Sie reisten nach Liverpool, Glasgow, Le Havre, Sues, Brindisi, New York und so weiter und man hatte ihnen für die Ergreifung des Diebes 2 000 Pfund Belohnung und fünf Prozent der wiedergefundenen Geldsumme versprochen. Bis zum Eintreffen genauerer Anweisungen, die sich erst aus den polizeilichen Ermittlungen ergeben würden, sollten die Detektive alle ankommenden und abreisenden Fahrgäste der Schifffahrtslinien aufmerksam beobachten.

Die Morning Chronicle hatte durchaus recht, wenn sie glaubte, der Dieb dürfe nicht in einer der organisierten englischen Verbrecherbanden gesucht werden. Am 29. September war im Kassenraum der Bank, also am Schauplatz der Ereignisse, ein distinguierter Herr durch mehrmaliges Hin-und-her-Laufen aufgefallen. Es war der Polizei gelungen, eine recht ausführliche Personenbeschreibung zusammenzustellen, die sofort an alle Detekteien des Vereinigten Königreiches und des europäischen Festlandes weitergeleitet wurde. Einige Optimisten, zu denen sich auch Gauthier Ralph zählte, glaubten, mit der Ergreifung des Diebes rechnen zu können.

Verständlich, dass diese Affäre das Tagesgespräch in London und im ganzen übrigen England bildete! Die Leute diskutierten den Fall und erwogen die Erfolgsaussichten der Polizeiaktion. Wir dürfen also nicht erstaunt sein, wenn sich auch die Gespräche der Herren im Reform Club um dasselbe Thema drehten, zumal einer der Ihren Zweiter Direktor des betroffenen Bankinstitutes war.

Der ehrenwerte Gauthier Ralph hielt die ausgesetzte Belohnung für hoch genug, um die Kriminalbeamten zu Bestleistungen anzuspornen. Sein Kollege Andrew Stuart dagegen sah die Angelegenheit in weit weniger hoffnungsvollem Licht. Das Gespräch der Herren verebbte nicht einmal, als sie sich am Whist-Tisch in gewohnter Ordnung niederließen: nämlich Stuart gegenüber Flanagan und Fallentin gegenüber Phileas Fogg.

Während des Spiels wurde kein Wort gewechselt, aber zwischen den Partien flammte die Diskussion sofort wieder auf.

»Ich möchte doch behaupten«, begann Andrew Stuart noch einmal, »dass sich der Dieb im Vorteil befindet, zumal es sich um einen schlauen Kopf zu handeln scheint.«

»Aber ich bitte Sie!«, entgegnete Ralph. »In welches Land könnte er denn noch flüchten?«

»Ganz so einfach liegt der Fall wohl nicht.«

»Dann sagen Sie mir doch, wohin er noch kommen könnte!«

»Ich weiß nicht recht«, meinte Andrew Stuart, »aber ich finde, die Erde ist ziemlich groß.«

»Das war sie früher einmal«, warf Phileas Fogg halblaut ein. »Bitte, heben Sie doch ab«, setzte er hinzu und breitete seine Karten vor Thomas Flanagan aus.

Sogleich erstarb das Gespräch. Aber nach beendetem Robber griff Andrew Stuart den letzten Satz wieder auf: »Was meinen Sie mit ›früher‹? Sie wollen doch nicht behaupten, dass der Erdball geschrumpft wäre?«

»Mister Fogg hat vollkommen recht«, wendete Gauthier Ralph ein.