Sali hob Vrenchen mit seinen Armen hoch empor und schritt
durch das Wasser gegen das Schiff; aber es liebkoste ihn so heftig ungebärdig und zappelte wie ein Fisch, daß er im ziehenden
Wasser keinen Stand halten konnte. Es strebte Gesicht und Hände ins Wasser zu tauchen und rief »Ich will auch das kühle Wasser
versuchen! Weißt du noch, wie kalt und naß unsere Hände waren, als wir sie uns zum erstenmal gaben? Fische fingen wir damals,
jetzt werden wir selber Fische sein und zwei schöne große!« – »Sei ruhig, du lieber Teufel!« sagte Sali, der Mühe hatte, zwischen
dem tobenden Liebchen und den Wellen sich aufrecht zu halten, »es zieht mich sonst fort!« Er hob seine Last in das Schiff
und schwang sich nach; er hob sie auf die hochgebettete weiche und duftende Ladung und schwang sich auch hinauf, und als sie
oben saßen, trieb das Schiff allmählich in die Mitte des Stromes hinaus und schwamm dann, sich langsam drehend, zu Tal.
Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten, bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei,
bald an einzelnen Hütten; hier geriet er in eine Stille, daß er einem ruhigen See glich und das Schiff beinah stillhielt,
dort strömte er um Felsen und ließ die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die Morgenröte aufstieg, tauchte zugleich
eine Stadt mit ihren Türmen aus dem silbergrauen Strome. Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den
Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des
Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.
Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt
die Leichen fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier
blutarmen zugrunde gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem
sie einen ganzen Nachmittag herzlich miteinander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich
in Verbindung zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet sei, und man
nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten,
abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.
Informationen zum Autor

Gottfried Keller
Keller wurde am 19.7.1819 in Zürich geboren. Sein Vater war Drechsler. Nach dem frühen Tod des Vaters (1824) besuchte er bis 1834 verschiedene Schulen. Einen Studienaufenthalt in München - mit dem Ziel, Maler zu werden - brach er ab und begann seine literarischen Studien.
Seine erste Gedichtsammlung (1846) verhalf ihm zu einem Stipendium in Zürich. 1848-1850 studierte Keller in Heidelberg Geschichte, Philosophie und Literatur. 1850-1855 lebte er in Berlin und danach wieder in Zürich als freier Schriftsteller. Von 1861 bis 1876 war er Erster Staatsschreiber des Kantons Zürich, danach widmete er sich nur noch seinen literarischen Arbeiten. Keller starb am 16.7.1890 in Zürich.
Werke u.a.
1846 Gedichte
1851 Neuere Gedichte
1854/55 Der grüne Heinrich (1. Fassung)
1856 Die Leute von Seldwyla
1872 Sieben Legenden
1876 Romeo und Julia auf dem Dorfe
1878 Züricher Novellen
1879/80 Der grüne Heinrich (Neufassung)
1886 Martin Salander

Impressum
Verlag: ekz.bibliotheksservice GmbH, Reutlingen
Ebook erstellt durch epublius GmbH, Berlin
ISBN:
978-3-95608-062-3
.
1 comment