Ordentliche Leute können etwas zuwege bringen, wenn sie so jung zusammenkommen
und fleißig und treu sind. Aber das muß man freilich sein, denn die Zeit ist kurz und doch lang und es kommen viele Tage,
viele Tage! Je nun, schön genug sind sie und amüsant dazu, wenn man gut Haus hält damit! Nichts für ungut, aber es freut mich,
euch anzusehen, so ein schmuckes Pärchen seid ihr!« Die Kellnerin brachte die Suppe, und da sie einen Teil dieser Worte noch
gehört und lieber selbst geheiratet hätte, so sah sie Vrenchen mit scheelen Augen an, welches nach ihrer Meinung so gedeihliche
Wege ging. In der Nebenstube ließ die unliebliche Person ihren Unmut frei und sagte zur Wirtin, welche dort zu schaffen hatte,
so laut, daß man es hören konnte: »Das ist wieder ein rechtes Hudelvölkchen, das, wie es geht und steht, nach der Stadt läuft
und sich kopulieren läßt, ohne einen Pfennig, ohne Freunde, ohne Aussteuer und ohne Aussicht als auf Armut und Bettelei! Wo
soll das noch hinaus, wenn solche Dinger heiraten, die die Jüppe noch nicht allein anziehen und keine Suppe kochen können?
Ach der hübsche junge Mensch kann mich nur dauern, der ist schön petschiert mit seiner jungen Gungeline!« – »Bscht! willst
du wohl schweigen, du hässiges Ding!« sagte die Wirtin, »denen lasse ich nichts geschehen! Das sind gewiß zwei recht ordentliche
Leutlein aus den Bergen, wo die Fabriken sind; dürftig sind sie gekleidet, aber sauber, und wenn sie sich nur gern haben und
arbeitsam sind, so werden sie weiter kommen als du mit deinem bösen Maul! Du kannst freilich noch lang warten, bis dich einer
abholt, wenn du nicht freundlicher bist, du Essighafen!«
So genoß Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset: die wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer sehr
vernünftigen Frau, den Neid einer heiratslustigen bösen Person, welche aus Ärger den Geliebten lobte und bedauerte, und ein
leckeres Mittagsmahl an der Seite eben dieses Geliebten! Es glühte im Gesicht wie eine rote Nelke, das Herz klopfte ihm, aber
es aß und trank nichtsdestominder mit gutem Appetit und war mit der aufwartenden Kellnerin nur um so artiger, konnte aber
nicht unterlassen, dabei den Sali zärtlich anzusehen und mit ihm zu lispeln, so daß es diesem auch ganz kraus im Gemüt wurde.
Sie saßen indessen lang und gemächlich am Tische, wie wenn sie zögerten und sich scheuten, aus der holden Täuschung herauszugehen.
Die Wirtin brachte zum Nachtisch süßes Backwerk und Sali bestellte feinern und stärkern Wein dazu, welcher Vrenchen feurig
durch die Adern rollte, als es ein wenig davon trank; aber es nahm sich in acht, nippte bloß zuweilen und saß so züchtig und
verschämt da wie eine wirkliche Braut. Halb spielte es aus Schalkheit diese Rolle und aus Lust, zu versuchen, wie es tue,
halb war es ihm in der Tat so zumut und vor Bangigkeit und heißer Liebe wollte ihm das Herz brechen, so daß es ihm zu eng
ward innerhalb der vier Wände und es zu gehen begehrte. Es war, als ob sie sich scheuten, auf dem Wege wieder so abseits und
allein zu sein; denn sie gingen unverabredet auf der Hauptstraße weiter, mitten durch die Leute, und sahen weder rechts noch
links. Als sie aber aus dem Dorfe waren und auf das nächstgelegene zugingen, wo Kirchweih war, hing sich Vrenchen an Salis
Arm und flüsterte mit zitternden Worten: »Sali! warum sollen wir uns nicht haben und glücklich sein?« – »Ich weiß auch nicht
warum!« erwiderte er und heftete seine Augen an den milden Herbstsonnenschein, der auf den Auen webte, und er mußte sich bezwingen
und das Gesicht ganz sonderbar verziehen. Sie standen still, um sich zu küssen; aber es zeigten sich Leute und sie unterließen
es und zogen weiter. Das große Kirchdorf, in dem Kirchweih war, belebte sich schon von der Lust des Volkes; aus dem stattlichen
Gasthofe tönte eine pomphafte Tanzmusik, da die jungen Dörfler bereits um Mittag den Tanz angehoben, und auf dem Platz vor
dem Wirtshause war ein kleiner Markt aufgeschlagen, bestehend aus einigen Tischen mit Süßigkeiten und Backwerk und ein paar
Buden mit Flitterstaat, um welche sich die Kinder und dasjenige Volk drängten, welches sich einstweilen mehr mit Zusehen begnügte.
Sali und Vrenchen traten auch zu den Herrlichkeiten und ließen ihre Augen darüber fliegen; denn beide hatten zugleich die
Hand in der Tasche und jedes wünschte dem andern etwas zu schenken, da sie zum ersten und einzigen Male miteinander zu Markt
waren; Sali kaufte ein großes Haus von Lebkuchen, das mit Zuckerguß freundlich geweißt war, mit einem grünen Dach, auf welchem
weiße Tauben saßen und aus dessen Schornstein ein Amörchen guckte als Kaminfeger; an den offenen Fenstern umarmten sich pausbäckige
Leutchen mit winzig kleinen roten Mündchen, die sich recht eigentlich küßten, da der flüchtige praktische Maler mit einem
Kleckschen gleich zwei Mündchen gemacht, die so ineinander verflossen. Schwarze Pünktchen stellten muntere Äuglein vor. Auf
der rosenroten Haustür aber waren diese Verse zu lesen:
Tritt in mein Haus, o Liebste!
Doch sei Dir unverhehlt:
Drin wird allein nach Küssen
Gerechnet und gezählt.
Die Liebste sprach: »O Liebster,
Mich schrecket nichts zurück!
Hab alles wohl erwogen:
In Dir nur lebt mein Glück!
Und wenn ich's recht bedenke,
Kam ich deswegen auch!«
Nun denn, spazier mit Segen
Herein und üb den Brauch!
Ein Herr in einem blauen Frack und eine Dame mit einem sehr hohen Busen komplimentierten sich diesen Versen gemäß in das Haus
hinein, links und rechts an die Mauer gemalt. Vrenchen schenkte Sali dagegen ein Herz, auf dessen einer Seite ein Zettelchen
klebte mit den Worten:
Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier,
Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb zu dir!
Und auf der anderen Seite:
Wenn Du dies Herz gegessen, vergiß dies Sprüchlein nicht:
Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!
Sie lasen eifrig die Sprüche und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden worden als diese
Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen.
»Ach«, seufzte Vrenchen, »du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz
ist jetzt unser Haus, darin wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken! Andere haben wir nicht!«
»Dann sind wir aber zwei Schnecken, von denen jede das Häuschen der andern trägt!« sagte Sali, und Vrenchen erwiderte: »Desto
weniger dürfen wir voneinander gehen, damit jedes seiner Wohnung nah bleibt!« Doch wußten sie nicht, daß sie in ihren Reden
eben solche Witze machten als auf den vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort diese süße einfache Liebesliteratur
zu studieren, die da ausgebreitet lag und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen geklebt war. Alles dünkte
sie schön und einzig zutreffend; als Vrenchen auf einem vergoldeten Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten bespannt war, las:
»Mein Herz ist wie ein Zitherspiel, rührt man es viel, so tönt es viel!« ward ihm so musikalisch zumut, daß es glaubte, sein
eigenes Herz klingen zu hören. Ein Napoleonsbild war da, welches aber auch der Träger eines verliebten Spruches sein mußte,
denn es stand darunter geschrieben: »Groß war der Held Napoleon, sein Schwert von Stahl, sein Herz von Ton; meine Liebe trägt
ein Röslein frei, doch ist ihr Herz wie Stahl so treu« – Während sie aber beiderseitig in das Lesen vertieft schienen, nahm
jedes die Gelegenheit wahr, einen heimlichen Einkauf zu machen. Sali kaufte für Vrenchen ein vergoldetes Ringelchen mit einem
grünen Glassteinchen, und Vrenchen einen Ring von schwarzem Gemshorn, auf welchem ein goldenes Vergißmeinnicht eingelegt war.
Wahrscheinlich hatten sie den gleichen Gedanken, sich diese armen Zeichen bei der Trennung zu geben.
Während sie in diese Dinge sich versenkten, waren sie so vergessen, daß sie nicht bemerkten, wie nach und nach ein weiter
Ring sich um sie gebildet hatte von Leuten, die sie aufmerksam und neugierig betrachteten. Denn da viele junge Bursche und
Mädchen aus ihrem Dorfe hier waren, so waren sie erkannt worden, und alles stand jetzt in einiger Entfernung um sie herum
und sah mit Verwunderung auf das wohlgeputzte Paar, welches in andächtiger Innigkeit die Welt um sich her zu vergessen schien.
»Ei seht!« hieß es, »das ist ja wahrhaftig das Vrenchen Marti und der Sali aus der Stadt! Die haben sich ja säuberlich gefunden
und verbunden! Und welche Zärtlichkeit und Freundschaft, seht doch, seht! Wo die wohl hinaus wollen?« Die Verwunderung dieser
Zuschauer war ganz seltsam gemischt aus Mitleid mit dem Unglück, aus Verachtung der Verkommenheit und Schlechtigkeit der Eltern
und aus Neid gegen das Glück und die Einigkeit des Paares, welches auf eine ganz ungewöhnliche und fast vornehme Weise verliebt
und aufgeregt war und in dieser rückhaltlosen Hingebung und Selbstvergessenheit dem rohen Völkchen ebenso fremd erschien wie
in seiner Verlassenheit und Armut. Als sie daher endlich aufwachten und um sich sahen, erschauten sie nichts als gaffende
Gesichter von allen Seiten; niemand grüßte sie und sie wußten nicht, sollten sie jemand grüßen, und diese Verfremdung und
Unfreundlichkeit war von beiden Seiten mehr Verlegenheit als Absicht. Es wurde Vrenchen bang und heiß, es wurde bleich und
rot, Sali nahm es aber bei der Hand und führte das arme Wesen hinweg, das ihm mit seinem Haus in der Hand willig folgte, obgleich
die Trompeten im Wirtshause lustig schmetterten und Vrenchen so gern tanzen wollte. »Hier können wir nicht tanzen!« sagte
Sali, als sie sich etwas entfernt hatten, »wir würden hier wenig Freude haben, wie es scheint!« »Jedenfalls«, sagte Vrenchen
traurig, »es wird auch am besten sein, wir lassen es ganz bleiben und ich sehe, wo ich ein Unterkommen finde!« »Nein«, rief
Sali, »du sollst einmal tanzen, ich habe dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das arme Volk sich lustig macht,
zu dem wir jetzt auch gehören, da werden sie uns nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt, wenn hier
Kirchweih ist, da es in die Kirchgemeinde gehört, und dorthin wollen wir gehen, dort kannst du zur Not auch übernachten.«
Vrenchen schauerte zusammen bei dem Gedanken, nun zum erstenmal an einem unbekannten Ort zu schlafen; doch folgte es willenlos
seinem Führer, der jetzt alles war, was es in der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein war ein schöngelegenes Wirtshaus an einer
einsamen Berghalde, das weit über das Land weg sah, in welchem aber an solchen Vergnügungstagen nur das ärmere Volk, die Kinder
der ganz kleinen Bauern und Tagelöhner und sogar mancherlei fahrendes Gesinde verkehrte. Vor hundert Jahren war es als ein
kleines Landhaus von einem reichen Sonderling gebaut worden, nach welchem niemand mehr da wohnen mochte, und da der Platz
sonst zu nichts zu gebrauchen war, so geriet der wunderliche Landsitz in Verfall und zuletzt in die Hände eines Wirtes, der
da sein Wesen trieb. Der Name und die demselben entsprechende Bauart waren aber dem Hause geblieben. Es bestand nur aus einem
Erdgeschoß, über welchem ein offener Estrich gebaut war, dessen Dach an den vier Ecken von Bildern aus Sandstein getragen
wurde, so die vier Erzengel vorstellten und gänzlich verwittert waren. Auf dem Gesimse des Daches saßen ringsherum kleine
musizierende Engel mit dicken Köpfen und Bäuchen, den Triangel, die Geige, die Flöte, Zimbel und Tamburin spielend, ebenfalls
aus Sandstein, und die Instrumente waren ursprünglich vergoldet gewesen. Die Decke inwendig sowie die Brustwehr des Estrichs
und das übrige Gemäuer des Hauses waren mit verwaschenen Freskomalereien bedeckt, welche lustige Engelscharen sowie singende
und tanzende Heilige darstellten. Aber alles war verwischt und undeutlich wie ein Traum und überdies reichlich mit Weinreben
übersponnen, und blaue reifende Trauben hingen überall in dem Laube. Um das Haus herum standen verwilderte Kastanienbäume,
und knorrige starke Rosenbüsche, auf eigene Hand fortlebend, wuchsen da und dort so wild herum wie anderswo die Holunderbäume.
Der Estrich diente zum Tanzsaal; als Sali mit Vrenchen daherkam, sahen sie schon von weitem die Paare unter dem offenen Dache
sich drehen, und rund um das Haus zechten und lärmten eine Menge lustiger Gäste.
Vrenchen, welches andächtig und wehmütig sein Liebeshaus trug, glich einer heiligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche
das Modell eines Domes oder Klosters auf der Hand hält; so sie gestiftet; aber aus der frommen Stiftung, die ihm im Sinne
lag, konnte nichts werden. Als es aber die wilde Musik hörte, welche vom Estrich ertönte, vergaß es sein Leid und verlangte
endlich nichts als mit Sali zu tanzen. Sie drängten sich durch die Gäste, die vor dem Hause saßen und in der Stube, verlumpte
Leute aus Seldwyla, die eine billige Landpartie machten, armes Volk von allen Enden, und stiegen die Treppe hinauf, und sogleich
drehten sie sich im Walzer herum, keinen Blick voneinander abwendend. Erst als der Walzer zu Ende, sahen sie sich um; Vrenchen
hatte sein Haus zerdrückt und zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es noch mehr erschrak über den schwarzen
Geiger, in dessen Nähe sie standen. Er saß auf einer Bank, die auf einem Tische stand, und sah so schwarz aus wie gewöhnlich;
nur hatte er heute einen grünen Tannenbusch auf sein Hütchen gesteckt, zu seinen Füßen hatte er eine Flasche Rotwein und ein
Glas stehen, welche er nie umstieß, obgleich er fortwährend mit den Beinen strampelte, wenn er geigte, und so eine Art von
Eiertanz damit vollbrachte.
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