Sie sahen sich eine Weile an, herüber und hinüber, als ob sie eine Lufterscheinung
betrachteten, bis sich Sali endlich aufrichtete und langsam über die Straße und über den Hof ging auf Vrenchen los. Als er
dem Mädchen nahe war, streckte es seine Hände gegen ihn aus und sagte: »Sali!« Er ergriff die Hände und sah ihr immerfort
ins Gesicht. Tränen stürzten aus ihren Augen, während sie unter seinen Blicken vollends dunkelrot wurde, und sie sagte: »Was
willst du hier?« – »Nur dich sehen!« erwiderte er, »wollen wir nicht wieder gute Freunde sein?« »Und unsere Eltern?« fragte
Vrenchen, sein weinendes Gesicht zur Seite neigend, da es die Hände nicht frei hatte, um es zu bedecken. »Sind wir schuld
an dem, was sie getan und geworden sind?« sagte Sali, »vielleicht können wir das Elend nur gut machen, wenn wir zwei zusammenhalten
und uns recht lieb sind!« – »Es wird nie gut kommen«, antwortete Vrenchen mit einem tiefen Seufzer, »geh in Gottes Namen deiner
Wege, Sali!« – »Bist du allein?« fragte dieser, »kann ich einen Augenblick hineinkommen?« – »Der Vater ist zur Stadt, wie
er sagte, um deinem Vater irgend etwas anzuhängen; aber hereinkommen kannst du nicht, weil du später vielleicht nicht so ungesehen
weggehen kannst wie jetzt. Noch ist alles still und niemand um den Weg, ich bitte dich, geh jetzt!« – »Nein, so geh ich nicht!
Ich mußte seit gestern immer an dich denken, und ich geh nicht so fort, wir müssen miteinander reden, wenigstens eine halbe
Stunde lang oder eine Stunde, das wird uns gut tun!« Vrenchen besann sich ein Weilchen und sagte dann: »Ich geh gegen Abend
auf unsern Acker hinaus, du weißt welchen, wir haben nur noch den, und hole etwas Gemüse. Ich weiß, daß niemand weiter dort
sein wird, weil die Leute anderswo schneiden; wenn du willst, so komm dorthin, aber jetzt geh und nimm dich in acht, daß dich
niemand sieht! Wenn auch kein Mensch hier mehr mit uns umgeht, so würden sie doch ein solches Gerede machen, daß es der Vater
sogleich vernähme.« Sie ließen sich jetzt die Hände frei, ergriffen sie aber auf der Stelle wieder und beide sagten gleichzeitig:
»Und wie geht es dir auch?« Aber statt sich zu antworten, fragten sie das gleiche aufs neue und die Antwort lag nur in den
beredten Augen, da sie nach Art der Verliebten die Worte nicht mehr zu lenken wußten und, ohne sich weiter etwas zu sagen,
endlich halb selig halb traurig auseinanderhuschten. »Ich komme recht bald hinaus, geh nur gleich hin!« rief Vrenchen noch
nach.
Sali ging auch alsobald auf die stille schöne Anhöhe hinaus, über welche die zwei Äcker sich erstreckten, und die prächtige
stille Julisonne, die fahrenden weißen Wolken, welche über das reife wallende Kornfeld wegzogen, der glänzende blaue Fluß,
der unten vorüberwallte, alles dies erfüllte ihn zum ersten Male seit langen Jahren wieder mit Glück und Zufriedenheit statt
mit Kummer, und er warf sich der Länge nach in den durchsichtigen Halbschatten des Kornes, wo dasselbe Martis wilden Acker
begrenzte, und guckte glückselig in den Himmel.
Obgleich es kaum eine Viertelstunde währte, bis Vrenchen nachkam, und er an nichts anderes dachte als an sein Glück und dessen
Namen, stand es doch plötzlich und unverhofft vor ihm, auf ihn niederlächelnd, und froh erschreckt sprang er auf. »Vreeli!«
rief er, und dieses gab ihm still und lächelnd beide Hände, und Hand in Hand gingen sie nun das flüsternde Korn entlang bis
gegen den Fluß hinunter und wieder zurück, ohne viel zu reden; sie legten zwei und dreimal den Hin- und Herweg zurück, still,
glückselig und ruhig, so daß dieses einige Paar nun auch einem Sternenbilde glich, welches über die sonnige Rundung der Anhöhe
und hinter derselben niederging, wie einst die sichergehenden Pflugzüge ihrer Väter. Als sie aber einsmals die Augen von den
blauen Kornblumen aufschlugen, an denen sie gehaftet, sahen sie plötzlich einen andern dunklen Stern vor sich hergehen, einen
schwärzlichen Kerl, von dem sie nicht wußten, woher er so unversehens gekommen. Er mußte im Korne gelegen haben; Vrenchen
zuckte zusammen und Sali sagte erschreckt: »Der schwarze Geiger!« In der Tat trug der Kerl, der vor ihnen her strich, eine
Geige mit dem Bogen unter dem Arm und sah übrigens schwarz genug aus; neben einem schwarzen Filzhütchen und einem schwarzen
rußigen Kittel, den er trug, war auch sein Haar pechschwarz so wie der ungeschorene Bart, das Gesicht und die Hände aber ebenfalls
geschwärzt; denn er trieb allerlei Handwerk, meistens Kesselflicken, half auch den Kohlenbrennern und Pechsiedern in den Wäldern
und ging mit der Geige nur auf einen guten Schick aus, wenn die Bauern irgendwo lustig waren und ein Fest feierten. Sali und
Vrenchen gingen mäuschenstill hinter ihm drein und dachten, er würde vom Felde gehen und verschwinden, ohne sich umzusehen;
und so schien es auch zu sein, denn er tat, als ob er nichts von ihnen merkte. Dazu waren sie in einem seltsamen Bann, daß
sie nicht wagten den schmalen Pfad zu verlassen und dem unheimlichen Gesellen unwillkürlich folgten bis an das Ende des Feldes,
wo jener ungerechte Steinhaufen lag, der das immer noch streitige Ackerzipfelchen bedeckte. Eine zahllose Menge von Mohnblumen
oder Klatschrosen hatte sich darauf angesiedelt, weshalb der kleine Berg feuerrot aussah zur Zeit. Plötzlich sprang der schwarze
Geiger mit einem Satze auf die rotbekleidete Steinmasse hinauf, kehrte sich und sah ringsum. Das Pärchen blieb stehen und
sah verlegen zu dem dunklen Burschen hinauf; denn vorbei konnten sie nicht gehen, weil der Weg in das Dorf führte, und umkehren
mochten sie auch nicht vor seinen Augen. Er sah sie scharf an und rief: »Ich kenne euch, ihr seid die Kinder derer, die mir
den Boden hier gestohlen haben! Es freut mich zu sehen, wie gut ihr gefahren seid, und werde gewiß noch erleben, daß ihr vor
mir den Weg alles Fleisches geht! Seht mich nur an, ihr zwei Spatzen! Gefällt euch meine Nase, wie?« In der Tat besaß er eine
schreckbare Nase, welche wie ein großes Winkelmaß aus dem dürren schwarzen Gesicht ragte oder eigentlich mehr einem tüchtigen
Knebel oder Prügel glich, welcher in dies Gesicht geworfen worden war und unter dem ein kleines rundes Löchelchen von einem
Munde sich seltsam stutzte und zusammenzog, aus dem er unaufhörlich pustete, pfiff und zischte. Dazu stand das kleine Filzhütchen
ganz unheimlich, welches nicht rund und nicht eckig und so sonderlich geformt war, daß es alle Augenblicke seine Gestalt zu
verändern schien, obgleich es unbeweglich saß, und von den Augen des Kerls war fast nichts als das Weiße zu sehen, da die
Sterne unaufhörlich auf einer blitzschnellen Wanderung begriffen waren und wie zwei Hasen im Zickzack umhersprangen. »Seht
mich nur an«, fuhr er fort, »eure Väter kennen mich wohl und jedermann in diesem Dorfe weiß, wer ich bin, wenn er nur meine
Nase ansieht. Da haben sie vor Jahren ausgeschrieben, daß ein Stück Geld für den Erben dieses Ackers bereitliege; ich habe
mich zwanzigmal gemeldet, aber ich habe keinen Taufschein und keinen Heimatschein, und meine Freunde, die Heimatlosen, die
meine Geburt gesehen, haben kein gültiges Zeugnis, und so ist die Frist längst verlaufen und ich bin um den blutigen Pfennig
gekommen, mit dem ich hätte auswandern können! Ich habe eure Väter angefleht, daß sie mir bezeugen möchten, sie müßten mich
nach ihrem Gewissen für den rechten Erben halten; aber sie haben mich von ihren Höfen gejagt, und nun sind sie selbst zum
Teufel gegangen! Item, das ist der Welt Lauf, mir kann's recht sein, ich will euch doch geigen, wenn ihr tanzen wollt!« Damit
sprang er auf der anderen Seite von den Steinen hinunter und machte sich dem Dorfe zu, wo gegen Abend der Erntesegen eingebracht
wurde und die Leute guter Dinge waren. Als er verschwunden, ließ sich das Paar ganz mutlos und betrübt auf die Steine nieder;
sie ließen ihre verschlungenen Hände fahren und stützten die traurigen Köpfe darauf; denn die Erscheinung des Geigers und
seine Worte hatten sie aus der glücklichen Vergessenheit gerissen, in welcher sie wie zwei Kinder auf und ab gewandelt, und
wie sie nun auf dem harten Grund ihres Elendes saßen, verdunkelte sich das heitere Lebenslicht und ihre Gemüter wurden so
schwer wie Steine.
Da erinnerte sich Vrenchen unversehens der wunderlichen Gestalt und der Nase des Geigers, es mußte plötzlich hell auflachen
und rief: »Der arme Kerl sieht gar zu spaßhaft aus! Was für eine Nase!« und eine allerliebste sonnenhelle Lustigkeit verbreitete
sich über des Mädchens Gesicht, als ob sie nur geharrt hätte, bis des Geigers Nase die trüben Wolken wegstieße. Sali sah Vrenchen
an und sah diese Fröhlichkeit. Es hatte die Ursache aber schon wieder vergessen und lachte nur noch auf eigene Rechnung dem
Sali ins Gesicht. Dieser, verblüfft und erstaunt, starrte unwillkürlich mit lachendem Munde auf die Augen, gleich einem Hungrigen,
der ein süßes Weizenbrot erblickt, und rief. »Bei Gott, Vreeli! wie schön bist du!« Vrenchen lachte ihn nur noch mehr an und
hauchte dazu aus klangvoller Kehle einige kurze mutwillige Lachtöne, welche dem armen Sali nicht anders dünkten als der Gesang
einer Nachtigall. »O du Hexe!« rief er, »wo hast du das gelernt? welche Teufelskünste treibst du da?« – »Ach du lieber Gott!«
sagte Vrenchen mit schmeichelnder Stimme und nahm Salis Hand, »das sind keine Teufelskünste! Wie lange hätte ich gern einmal
gelacht! Ich habe wohl zuweilen, wenn ich ganz allein war, über irgend etwas lachen müssen, aber es war nichts Rechts dabei;
jetzt aber möchte ich dich immer und ewig anlachen, wenn ich dich sehe, und ich möchte dich wohl immer und ewig sehen! Bist
du mir auch ein bißchen recht gut?« – »O Vreeli!« sagte er und sah ihr ergeben und treuherzig in die Augen, »ich habe noch
nie ein Mädchen angesehen, es war mir immer, als ob ich dich einst lieb haben müßte, ohne daß ich wollte oder wußte, hast
du mir doch immer im Sinn gelegen!« – »Und du mir auch«, sagte Vrenchen, »und das noch viel mehr; denn du hast mich nie angesehen
und wußtest nicht, wie ich geworden bin; ich aber habe dich zuzeiten aus der Ferne und sogar heimlich aus der Nähe recht gut
betrachtet und wußte immer, wie du aussiehst! Weißt du noch, wie oft wir als Kinder hierhergekommen sind? Denkst du noch des
kleinen Wagens? Wie kleine Leute sind wir damals gewesen und wie lang ist es her! Man sollte denken, wir wären recht alt?«
– »Wie alt bist du jetzt?« fragte Sali voll Vergnügen und Zufriedenheit, »du mußt ungefähr siebzehn sein?« – »Siebzehn und
ein halbes Jahr bin ich alt!« erwiderte Vrenchen, »und wie alt bist du? Ich weiß aber schon, du bist bald zwanzig!« – »Woher
weißt du das?« fragte Sali. »Gelt, wenn ich es sagen wollte!« – »Du willst es nicht sagen?« – »Nein!« – »Gewiß nicht?« – »Nein,
nein!« – »Du sollst es sagen!« – »Willst du mich etwa zwingen?« – »Das wollen wir sehen!« Diese einfältigen Reden führte Sali,
um seine Hände zu beschäftigen und mit ungeschickten Liebkosungen, welche wie eine Strafe aussehen sollten, das schöne Mädchen
zu bedrängen. Sie führte auch, sich wehrend, mit vieler Langmut den albernen Wortwechsel fort, der trotz seiner Leerheit beide
witzig und süß genug dünkte, bis Sali erbost und kühn genug war, Vrenchens Hände zu bezwingen und es in die Mohnblumen zu
drücken. Da lag es nun und zwinkerte in der Sonne mit den Augen; seine Wangen glühten wie Purpur und sein Mund war halb geöffnet
und ließ zwei Reihen weiße Zähne durchschimmern. Fein und schön flossen die dunklen Augenbraunen ineinander und die junge
Brust hob und senkte sich mutwillig unter sämtlichen vier Händen, welche sich kunterbunt darauf streichelten und bekriegten.
Sali wußte sich nicht zu lassen vor Freuden, das schlanke schöne Geschöpf vor sich zu sehen, es sein eigen zu wissen, und
es dünkte ihm ein Königreich. »Alle deine weißen Zähne hast du noch!« lachte er, »weißt du noch, wie oft wir sie einst gezählt
haben? Kannst du jetzt zählen?« – »Das sind ja nicht die gleichen, du Kind!« sagte Vrenchen, »jene sind längst ausgefallen!«
Sali wollte nun in seiner Einfalt jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verschloß
plötzlich den roten Mund, richtete sich auf und begann einen Kranz von Mohnrosen zu winden, den es sich auf den Kopf setzte.
Der Kranz war voll und breit und gab der bräunlichen Dirne ein fabelhaftes reizendes Ansehen, und der arme Sali hielt in seinem
Arm, was reiche Leute teuer bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden hätten sehen können.
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