Vielleicht führt dieser Strom uns bis zum Südpol selbst. Ich muß bekennen, daß diese augenscheinlich so absurde Vorstellung alle Wahrscheinlichkeit für sich hat.

Die Mannschaft wandert mit rastlosen, zitternden Schritten an Deck auf und ab; ihre Gesichter aber tragen eher den Ausdruck leidenschaftlicher Hoffnung als den mutloser Verzweiflung.

Wir treiben noch immer vor dem Wind, und da wir mit Segeln ganz bepackt sind, so wird das Schiff zuweilen geradezu in die Luft gehoben! O Grauen über Grauen! – Die Eismauern rechts und links hören plötzlich auf, und wir wirbeln in ungeheuren konzentrischen Kreisen dahin – rund um den Rand eines riesigen Amphitheaters, dessen gegenüberliegende Seite sich in Dunkel und Ferne verliert.

Doch wenig Zeit bleibt mir, über mein Schicksal nachzudenken! Die Spiralen werden enger und enger – wir stürzen mit rasanter Eile in den Strudel – und mitten im Donnergeheul von Meer und Sturm erbebt das Schiff, wankt und – o Gott! – versinkt!

Die Arbeit Das Manuskript in der Flasche wurde zum ersten Male im Jahre  veröffentlicht; und erst viele Jahre später wurden mir die Mercatorschen Seekarten bekannt, nach deren Darstellung der Ozean sich in vier Mündungen in den (nördlichen) Polargolf ergießt, um dort von den Eingeweiden der Erde verschlungen zu werden. Der Pol selbst ist dargestellt, als ein schwarzer, zu gewaltiger Höhe aufragender Fels.


DAS STELLDICHEIN

Le Assignation ()

Erwarte mich! Ich will Dich nicht verfehlen,

Dich wieder treffen in dem hohlen Tal der Schatten!

(Nachruf Henry Kings, Bischofs von Chichester, an seine Gattin)


Unseliger, geheimnisvoller Mann (gemeint ist der engl. Dichter Lord George Gordon Noel Byron) – O Du –, zerstört durch die brennende Glut Deiner eigenen Phantasie, verschlungen von den schlagenden Flammen Deiner allzu heißen Jugend! Wieder sehe ich Dich vor mir!

Wieder ist Deine Gestalt vor meinen Augen erstanden; nicht die, welche jetzt in dem kalten Tale der Schatten irrt, nein: die, welche noch sein könnte und dann ein Leben prächtiger Träumereien in jener Stadt nebelhafter Gesichte verschwenden würde – in Deinem Venedig, dem von den Sternen geliebten Elysium des Meeres, wo die hohen Palastfenster mit tiefer, bitterer Bedeutung auf die Geheimnisse der schweigenden Wasser hinabsehen. Ja, ich sehe Dich! Oh, und gewiß: es gibt noch andere Welten als diese irdische, andere Gedanken als die plumpen der Menge, andere Weisheiten als die allzu klugen Sophismen im Philosophenhirn! Wer könnte Dich wohl um Deines Lebens willen zur Verantwortung ziehen; wer Dich tadeln für die Stunden, in denen Du fern, fern, weltentrückt warst? Wer möchte ernsthaft Dein traumgeweihtes Dasein ein ›verlorenes‹ nennen?

In Venedig, unter dem gedeckten Bogengang, der die Seufzerbrücke heißt, da traf ich den Mann, von dem ich hier rede, zum dritten oder vierten Male. Verwirrt ist meine Erinnerung: der Einzelheiten vermag ich mich nicht zu entsinnen. Und doch – vergessen werd ich’s nie … Wenn ich so zurückdenke: Wie tief die Mitternacht war, die über jener Brücke damals lag. Und diese erlesene Formenschönheit.

Und der ganze Geist des Seltsamen, der schwebend über dem Kanal lag, an seinen Ufern auf und nieder glitt.

Die Nacht war unheimlich dunkel; die große Glocke auf der Piazza hatte eben die zwölfte Stunde geschlagen. Schweigend und verlassen lag der Campanile da. Die Lichter in dem alten Dogenpalaste erloschen eins nach dem anderen. Ich kam durch den großen Kanal von der Piazetta, und als meine Gondel gegenüber der Mündung des Kanals San Marco angekommen war, brach plötzlich der wilde, hysterische, lang anhaltende Schrei einer weiblichen Stimme durch die Nacht.

Erschrocken sprang ich auf, während mein Gondoliere sein einziges Ruder fallen ließ, das in der pechschwarzen Finsternis auf immer verlorenging, so daß wir uns der Strömung überlassen mußten, die hier von dem größeren in den kleineren Kanal treibt. Wie ein ungeheurer, trauerflorbefiederter Kondor glitt unsere Barke langsam der Seufzerbrücke zu, als tausend Fackeln in den Fenstern und auf der Treppe des Dogenpalastes aufflackerten und die tiefe Düsterheit mit einem Schlage in einen totenbleichen, phantastischen Tag verwandelten.

Ein Kind war aus den Armen seiner eigenen Mutter aus einem der oberen Fenster des mächtigen Bauwerkes in den tiefen, trüben Kanal gefallen. Schweigend hatten sich die ruhigen Wasser über ihrem Opfer wieder geschlossen; und obgleich meine Gondel die einzige in der Nähe war, hatte sich mancher kühne Schwimmer schon in die Strömung geworfen und suchte vergebens den Schatz auf der Oberfläche, der, ach, nur im Abgrund zu finden war. Auf den mächtigen schwarzen Marmorfliesen am Eingange des Palastes, nur wenige Fuß über dem Wasser, stand eine Gestalt, die niemand, der sie dort gesehen, jemals wieder vergessen haben kann. Es war die Marchesa Aphrodite – die von ganz Venedig Angebetete – die Strahlendste der Strahlenden – die Schönste unter all den Schönen – die junge Gattin des alten Intriganten Mentoni, die Mutter jenes reizenden Kindes, ihres ersten und einzigen, das nun tief unter dem schlammigen Wasser in bitterer Todesnot an ihre süßen Liebkosungen dachte, sich mühte, ihren Namen zu rufen, und so in Qualen zugrunde ging.

Sie stand allein. Ihr kleiner, nackter, silberglänzender Fuß schimmerte auf dem schwarzen Marmor. Das Haar, halb dem künstlichen Aufbau entwunden, den sie auf dem Fest getragen, das eben erst geendet, umringelte in blauschwarzen, von Diamantentau betropften Lockentrauben den herrlichen Kopf. Ein schneeig weißes, schleierleichtes Gewand schien als einzige Hülle ihre zarte Gestalt zu bedekken; doch die Mittsommermitternacht war heiß, schwül, bleiern, und keine Bewegung in der statuengleichen Gestalt verschob die Falten des Nebelgespinstes, das sie umhing, wie der schwere Marmor die Niobe umhängt. Aber – wie seltsam! – ihre großen, lichtstrahlenden Augen ruhten nicht unten auf dem Grabe, das eben ihre schönste Hoffnung verschlungen – sie starrten weit, weit hinaus …

Ich glaube, das Gefängnis der alten Republik ist das stattlichste Gebäude von ganz Venedig; jedoch – wie konnte die Marchesa Aphrodite es nur so anstarren, jetzt, da ihr eigenes Kind im Todeskampf dort unten lag? Und jene dunkle, düstervolle Nische, die gerade dem Fenster ihres Zimmers gegenüber aufgähnt – was konnte nur in ihrem Schatten, an ihrer Architektur, an ihren mit eisernem Laubwerk umrankten Friesen sein, das die Marchesa di Mentoni nicht schon tausendmal vorher gesehen? Müßige Frage! – Wer wüßte nicht, daß das Auge wie ein zertrümmerter Spiegel die Bilder seines Schmerzes vervielfältigt und in jedem noch so weit entfernten Ort den Jammer sieht, der dicht vor seinen Füßen liegt?

Ein paar Stufen höher als die Marchesa, unter dem Portal, stand, noch in vollem Festanzug, die satyrgleiche Gestalt Mentonis. Er klimperte auf seiner Gitarre herum und schien unglaublich gelangweilt, während er hin und wieder Befehle zur Rettung des Kindes gab.

Ich, meinerseits, war bestürzt und wie leblos und fand nicht Kraft, meine jähe aufrechte Stellung, zu welcher mich der Schrei emporgerissen hatte, zu verändern; geisterhaft und vorbedeutend muß ich mit bleichem Angesicht und erstarrten Gliedern in meiner trauerflorgefiederten Gondel an der erregten Gruppe am Ufer vorübergeglitten sein.

Alle Rettungsversuche waren natürlich vergebens, und selbst die kühnsten Schwimmer gaben ihre Anstrengungen auf und überließen sich düsterer Stimmung. Das Kind schien hoffnungslos verloren (wie viel hoffnungsloser mußte die Mutter sein!), als plötzlich aus dem Inneren jener dunklen Nische des alten republikanischen Gefängnisses eine mantelumhüllte Gestalt in den Lichtkreis der Fackeln heraustrat, einen Augenblick am Rand des schwindelhohen Ufers stehenblieb und dann kopfüber in den Kanal stürzte. Als sie einen Augenblick später mit dem noch atmenden Kind in den Armen auf den Marmorfliesen an der Seite der Marchesa stand, fiel sein schwer von Wasser durchtränkter Mantel zu seinen Füßen nieder und enthüllte den verwunderten Zuschauern die anmutvolle Gestalt eines jungen Mannes, von dessen Namen damals ganz Europa widerklang.

Kein Wort sprach der Retter. Aber die Marchesa! Nun wird sie ihr Kind umfangen – wird es an ihr Herz drücken – wird seine kleine Gestalt an sich pressen und mit ihren Zärtlichkeiten beruhigen! Ach!

Andere Arme nahmen es von dem Fremden entgegen – andere Arme trugen es fort, von der Mutter unbeachtet, in den großen Palast! Und die Marchesa! Ihre Lippen – ihre schönen Lippen zittern; Tränen steigen in ihre Augen, und sieh! ein Schauder fährt aus ihrer Seele auf, durchbebt ihre ganze Gestalt – die Statue wird lebendig! Über die Blässe ihres marmornen Antlitzes, über die Rundung des Marmorbusens, über die leuchtende Reinheit ihrer marmornen Füße rinnt plötzlich eine Flut schimmernden Rosenlichtes, und ein leichtes Erschauern geht über ihr zartes Gesicht wie die liebliche Luft Neapels über die schlanken Silberlilien im Grase.

Weshalb nur mochte die Dame erröten? Vielleicht, weil sie in der angstvollen Hast ihres mütterlichen Herzens die Verschwiegenheit ihres Gemaches verließ, ohne ihre zarten Füße in die Pantöffelchen zu stecken und die gewohnte Hülle um ihre schneeigen Schultern zu breiten? Welch anderen Grund könnte man sonst für ihr Erröten finden, für das Aufglänzen ihrer seltsam verlangenden Augen, für den Aufruhr in ihrem wildklopfenden Busen, für den krampfhaften Druck ihrer zitternden Hand, ihrer Hand, die, als Mentoni in den Palast zurückgekehrt, wie zufällig auf die Hand des Fremden fiel?

Welchen Grund mochte es wohl haben, daß sie sonderbar leise mit den eilig geflüsterten sinnlosen Worten von ihm Abschied nahm:

»Du hast gesiegt, das Murmeln der Wasser hat mich nicht getäuscht. Du hast gesiegt, eine Stunde nach Sonnenaufgang werden wir uns treffen – so soll es sein!«

Der Tumult ließ nach, die Lichter im Palast erloschen eins nach dem anderen, und der Fremde, der mir wohlbekannt war, stand allein auf den Fliesen. Er schauderte einen Augenblick mit einer seltsamen Bewegung zusammen, dann blickte sein Auge suchend nach einer Gondel umher. Ich konnte nicht umhin, ihn aufzufordern, sich meiner eigenen zu bedienen – und er nahm das Anerbieten an. Es gelang uns, ein neues Ruder aufzutreiben, und bald glitten wir seiner Wohnung zu, während er nach und nach, doch immerhin schnell, seine Selbstbeherrschung zurückgewann und mit herzlichem Tone von unserer früheren flüchtigen Bekanntschaft sprach.

Es gibt einige Menschen, über die ich sehr eingehend sprechen möchte, und die Person des Fremden – lassen Sie ihn mich so nennen, denn für diese Welt war er stets ein Fremder – gehört zu ihnen. Seine Größe war vielleicht eher unter als über dem Mittelmaß, obwohl sich seine Gestalt in Augenblicken der Leidenschaftlichkeit reckte und wuchs, so daß sie diese Behauptung wieder Lügen strafte. Die leichte, fast zarte Symmetrie seines Antlitzes redete mehr von Taten solch raschen Handelns, wie er es an der Seufzerbrücke gezeigt, als von jener übermenschlichen Kraft, die er ohne Anstrengung bei gefährlicheren Gelegenheiten schon bewiesen hatte. Der Mund, das Kinn waren schön wie die eines Gottes – die Augen seltsam, wild, glutvoll und klar, und ihr Glanz schwankte zwischen reinstem Haselbraun und grundlosestem, glänzendstem Jettschwarz – aus einer Fülle dunklen Lockenhaares schimmerte eine ungewöhnlich breite Stirn in lichtem Elfenbein. Niemals sah ich Züge voll solch klassischer Regelmäßigkeit; nur den marmorstarren Linien des Kaisers Commodus waren sie vergleichbar.