Doch besaß ich keine Vorstellung von dem, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hatte. Meine Erinnerung daran war ein Gefühl wie Schrecken, den seine Unbestimmtheit nur grausiger, wie Entsetzen, das seine Gegenstandslosigkeit nur noch gräßlicher machte. Es war eine fürchterliche Stunde meines Lebens, angefüllt mit nebelhaften, unaussprechlichen, scheußlichen Erinnerungen. Ich bemühte mich, die Wirklichkeit zu erkennen, die ihnen zugrunde lag; vergebens! Von Zeit zu Zeit drang der schrille, durchdringende Schrei einer Frauenstimme wie das Gespenst eines verwehten Tones an mein Ohr. Ich hatte eine Tat vollbracht – doch welche? Laut stellte ich mir diese Frage, und das flüsternde Echo des Zimmers antwortete mir: – doch welche? Neben mir auf dem Tisch brannte eine Lampe, und ihr zur Seite stand eine kleine Kiste aus Ebenholz. Es war nichts Besonderes an ihr, und ich hatte sie schon oft gesehen, denn sie gehörte unserem Hausarzt. Aber wie kam sie da auf meinen Tisch, und weshalb schauderte ich, als ich sie erblickte?

Doch – es war wohl nicht der Mühe wert, darüber nachzudenken!

Meine Blicke wandten sich ab und fielen auf ein offenes Buch und eine Zeile in demselben, die jemand unterstrichen hatte. Es waren die sonderbaren, aber einfachen Worte des Dichters Ebn Zaiat: Dicebant mihi sodales, si sepulcrum amicae visitarem, curas meas aliquantulum fore levatas. Wie kam es, daß sich beim Lesen dieses Satzes mein Haar emporsträubte, daß mein Blut in den Adern erstarrte?

Man klopfte leise an die Tür des Bibliothekzimmers, und bleich wie ein dem Grabe Entstiegener kam ein Diener auf den Zehenspitzen herein. Seine Blicke waren schreckverwirrt, und er sprach mit leiser, zitternder, erstickter Stimme. Was sagte er mir? – Ich vernahm nur Bruchstücke. Er sprach von einem gräßlichen Schrei, der das Schweigen der Nacht unterbrochen hatte – sagte, daß die Dienerschaft zusammengelaufen sei und in der Richtung des Tones gesucht habe. Dann wurde seine Stimme gellend deutlich – er redete von der Schändung des Grabes, von dem entstellten, aus den Leichentüchern gerissenen Körper, der noch stöhnte, noch pulsierte, noch lebte!

Er deutete auf meine Kleider sie waren mit Kot und Blut beschmutzt. Er sprach nicht, sondern ergriff sanft meine Hand, sie trug die Male menschlicher Nägel. Er richtete meine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der an der Wand lehnte – es war ein Spaten. Mit einem Schrei stürzte ich zum Tisch und ergriff die Ebenholzkiste.

Ich hatte nicht die Kraft, sie zu öffnen, sie glitt aus meiner zitternden Hand, fiel schwer zu Boden und sprang entzwei; mit Gerassel rollten einige zahnärztliche Instrumente heraus und zweiunddreißig kleine, weiße, wie Elfenbein schimmernde Gegenstände, die sich auf dem Fußboden verstreuten …


MORELLA

Morella ()

Itself, alone by itself, eternally one, and single (Platon)


Ein Gefühl tiefer, doch ganz eigentümlicher Zuneigung verband mich mit meiner Freundin Morella. Als ich sie vor vielen Jahren zufällig kennenlernte, lohte meine Seele auf in einer Glut, die ich bis dahin noch nicht empfunden hatte; doch war es nicht Liebe, und bitter wurde mein Geist von der wachsenden Überzeugung gequält, daß es mir nie möglich sein werde, die sonderbare Bedeutsamkeit meiner Empfindungen zu erkennen oder ihre unbestimmte Heftigkeit in natürliche Bahnen zu lenken. Doch fanden wir einander, und das Schicksal vereinigte uns vor dem Altar. Nie sprach ich von Leidenschaft, noch dachte ich an ihre heißen Wünsche. Morella aber floh jede Gesellschaft, schloß sich an mich allein an und machte mich glücklich. Denn es ist wohl ein Glück, sich verwundern und träumen zu können.

Morellas Gelehrsamkeit schien allumfassend, ihre Talente waren ungewöhnlich, ihre Geisteskräfte fast überentwickelt. Ich empfand dies und wurde in manchem ihr Schüler. Bald bemerkte ich, daß sie mit Vorliebe jene mystischen Schriften vor mir ausbreitete, die man allgemein als den bloßen Schaum der frühen deutschen Literatur betrachtet. Sie waren, aus Gründen, die ich nicht kannte, ihr beständiges und liebstes Studium, und daß sie im Laufe der Zeit auch das meine wurden, muß ich dem einfachen, aber sehr wirksamen Einfluß der Gewohnheit und des Beispiels zuschreiben.

Mit alledem hatte, wenn ich mich nicht irre, mein Verstand wenig zu tun. Meine Überzeugungen waren in keiner Weise auf das Ideale gegründet, und weder in meinen Handlungen noch in meinen Gedanken war – ich müßte mich denn selbst nicht mehr kennen – ein Schatten von dem Mystizismus meiner Lektüre zu entdecken. Vollständig davon überzeugt, überließ ich mich blindlings der Führung meiner Frau und betrat mit ruhigem Herzen das Labyrinth ihrer Studien. Und dann – als ich mich in jene unheilvollen Blätter versenkte und fühlte, wie sich ein Verderben bringender Geist in mir entzündete, pflegte Morella ihre kalte Hand auf die meine zu legen und aus der Asche einer toten Philosophie ein paar düstere, sonderbare Worte aufzustöbern, deren seltsamer Sinn sich meinem Gedächtnis einbrannte. Und dann verträumte ich lange Stunden an ihrer Seite und lauschte auf die Musik ihrer Stimme, bis mir endlich Schrecken aus ihr widertönte; – es fiel ein Schatten auf meine Seele, ich wurde bleich und schauderte im Innern bei diesen unirdischen Tönen. Und so erstarb die Freude bald im Entsetzen, das Schönste wandelte sich zum Gräßlichen, wie einst das Tal Hinnom zur Gehenna wurde.

Es ist unnötig, den genauen Charakter der Probleme zu enthüllen, die aus den Büchern, von denen ich sprach, hervorwuchsen und lange Zeit den einzigen Gesprächsstoff zwischen mir und Morella bildeten.

Die Erfahrenen in jener Wissenschaft, die man theologische Moral nennen könnte, werden sie leicht begreifen, und die Ungelehrten würden im besten Falle nur sehr wenig davon verstehen. Der seltsame Pantheismus Fichtes, die gemäßigte Lehre der Pythagoräer von der Wiedergeburt, und vor allem Schellings Identitätsdoktrinen waren die Punkte im Gespräch, die den größten Reiz auf die phantasiereiche Morella ausübten. Diese sogenannte persönliche Identität definiert Locke, glaube ich, als in der ununterbrochenen Dauer eines vernunftbegabten Wesens bestehend.