»N'importe!« rief sie, die geballte Hand gegen die Tischplatte stemmend. »Ich habe nur den Sohn und sonst nichts auf der Welt!«
Der Arzt blickte sie fragend an, aber nur einen Augenblick; jene Worte lagen jenseit der Grenze seiner Pflicht; er empfahl nur noch, die letzten Wochen des dem Sohne gewährten Urlaubs zu einer Herbstfrische auf dem Lande zu benutzen.
Frau von Schlitz nickte. »Ich dachte eben daran«, sagte sie leichthin. Kaum aber hatte hinter dem Fortgehenden sich die Tür geschlossen, als sie schon in dem anstoßenden Zimmer an ihrem Schreibtische saß, über dem das Bildnis ihres Vaters in der roten Kammerherrnuniform auf sie herabsah.
»Meine gute Margarete«... diese Worte waren mit fliegender Feder aufs Papier geworfen; denn jenes blonde Mädchen war kein bloßes Phantasiebild: es war die Tochter einer Jugendbekanntschaft, der Gattin eines Landpfarrers, in dessen Hause sie auf dem Wege nach Rudolfs amtlichem Wohnorte im Frühling eingekehrt und aufs dringendste zu längerer Wiederholung ihres Besuches nebst ihrem Sohne eingeladen war.
Aber der rasch geschriebenen Anrede folgte zunächst nichts Weiteres; war es der Schreiberin doch, als habe plötzlich die Hand der hübschen Baroneß sich auf die ihrige gelegt. Langsam lehnte sie sich zurück; ein Strom erwünschter Bilder und Gedanken zog an ihr vorüber; gewiß, das übermütige, nur noch kurze Zeit von einem Vormunde abhängige Kind würde gar gern ihr Freifrauenkrönchen gegen den schlichteren Namen einer Frau von Schlitz vertauschen. Rudolf und dieses Mädchen! Sie hob sich unwillkürlich von ihrem Sessel; ihr war, als würden vor einem kerzenhellen Saal die Flügeltüren aufgerissen und sie schreite als Mutter neben dem prächtigen Paare hindurch. – Aber – der Doktor! Die stolze Frau sank düster in sich zusammen; der Doktor hatte ja nur ausgesprochen, was sie in ihren eigenen Gedanken längst auf und ab erwogen hatte. Ja, wenn das Letzte nicht gewesen wäre! Eine Angst vor der Zukunft, eine furchtbare Vorstellung überfiel sie. »Mein Sohn! Mein Kind!« Es kam wie ein lauter Aufschrei aus ihrer Brust; und als habe sie sich selbst aus einem Traum erweckt, blickte sie unsicher und mit großen Augen um sich: »Gott sei gelobt; er selber weiß es nicht, an welchem Abgrund er gestanden hat.«
Bald hatte sie sich gefaßt; es mußte sein, es mußte gleich geschehen. Flüchtig streiften ihre Augen über das kalte Antlitz, das im Bilde auf sie herabsah; dann schrieb sie in kräftigen Zügen und mit Bedacht den Brief an die Frau Pastorin zu Ende.
Seit drei Wochen waren Mutter und Sohn nun auf dem Dorfe; ein eigenes Quartier zwar hatten sie in der Küsterwohnung gefunden, im übrigen aber gehörten sie bei den gastfreien Pfarrersleuten fast wie zur Hausfamilie. Rudolf war sichtbar gekräftigt; seine Wangen hatten sich gebräunt, Aug und Ohr begannen wieder ein heiteres Begegnen mit allem, was er in Haus und Feld auf seinem Wege traf. Dazu hatte nicht nur die Gegenwart der anmutigen Pfarrerstochter, sondern fast nicht weniger das tüchtige Wesen des Pfarrers selbst geholfen, der es meisterlich verstand, was er »ein Schwachgefühl« zu nennen liebte, mit schelmischen Worten aus den geheimsten Winkeln aufzujagen. So war denn auch in den hell getünchten Zimmern des Pfarrhauses wenig davon zurückgeblieben ; nur die Frau Pastorin mochte sich wohl einmal, vielleicht zur Erholung von all der Kinder- und Küchenwirtschaft, eine sentimentale Anwandlung zu Gemüte führen, wobei sie dann ihren Redeschmuck den zwei einzigen Opern, welche sie in ihrem Leben gesehen hatte, dem »Freischütz« und der Weiglschen »Schweizerfamilie«, zu entlehnen pflegte. Wenn aber der Pfarrer nach einer Weile ruhigen Gewährenlassens wie in gutherziger Teilnahme sich ihrer Hand bemächtigte: »Mutter, ist heut wohl Emmelinentag?«, dann flog freilich ein Wölkchen leichten Mißbehagens über ihr braves Angesicht, bald aber mußte sie doch selber lachen und war wieder daheim in der Luft ihres werktätigen Hauses.
Auch Rudolf mußte sich bald diese freundliche Überwachung gefallen lassen. Eines Nachmittags, als eben die Septembersonne ihr letztes Abendgold über die Wände des gemeinsamen Wohnzimmers warf, hatte er das alte Klavier zurückgeklappt und ließ nun eine der schwermütigen Notturnoklagen des von ihm vielgeliebten und – studierten Chopin in den sinkenden Tag hinausklingen. Der Pastor, durch das meisterhafte Spiel aus seiner Studierstube hervorgelockt, hatte sich leise hinter seinen Stuhl gestellt und verharrte so in aufmerksamem Lauschen bis ans Ende; dann aber legte er schweigend die Haydnsche G-Dur-Sonate mit dem Allegretto innocente aufs Pulpet, die er schon bei seinem Eintritt in der Hand gehalten hatte. Rudolf blickte auf und um, und da er den Pastor erkannte, nickte er gehorsam, schüttelte wie zur Ermunterung noch ein paarmal seine geschickten Hände, und bald erklangen die heiteren Fiorituren des unsterblichen Meisters und füllten das Zimmer wie mit Vogelsang und Sommerspiel der Lüfte. »Bravo, junger Freund!« rief der Pfarrer, der wie alle andern, die Frau Forstjunkerin nicht ausgeschlossen, mit entzücktem Angesicht gelauscht hatte ; »das hat rote Wangen; wir haben kaum gemerkt, wie Sie uns durch die Dämmerung hindurchgespielt haben. Nun aber Licht! Die Schneiderstunde ist zu Ende!«
Die zehnjährige Käthe lief hinaus; Anna aber, als wollte sie sich zu ihm emporstrecken, hatte sich dicht an die Schulter des kräftigen Vaters gestellt und blickte mit aufmerkendem Lächeln zu ihm auf; es war recht sichtbar, daß die beiden eines Blutes waren.
Ein freundlicher Verkehr, dem es bald an einer verschwiegenen Innigkeit nicht fehlte, hatte zwischen Rudolf und dem blonden Mädchen schon vom ersten Tage an begonnen, wo noch das blasse Antlitz des Genesenden die Schonung der Gesunden anzusprechen schien; durch die scheue Jungfräulichkeit des Mädchens war wie aus der Knospe etwas von jener Mütterlichkeit hervorgebrochen, in deren Obhut auch der Mann am sichersten von Leid und Wunden ausruht. Wenn aus der überwundenen Nacht noch ein Schatten ihn bedrängen wollte, wenn vor der nächsten Zukunft eine Scheu ihn anfiel, dann suchte er unwillkürlich ihre Nähe, und wo er sie immer antreffen mochte, im Garten oder in der Küche, die Welt erschien ihm heller, wenn er auch nur das Regen ihrer fleißigen Hände sehen konnte. Oft aber, wenn sie eben beisammen waren, hatten schon die ahnenden Augen des Mädchens ihn gestreift, und bald mit stillen, bald mit neckenden Worten ließ sie ihm keine Ruhe, bis er im frischen Tageslichte vor ihr stand.
Frau von Schlitz hatte anfangs beobachtet; dann hatte sie die jungen Leute sich selber überlassen. Gewiß, wenn irgend eine, so war dies die Frau, wie sie der Doktor ihrem Sohn verordnet hatte!
Übrigens war Rudolf nicht der einzige junge Mann, welcher sich eines Verkehres mit dem Mädchen zu erfreuen hatte: ein entfernter Vetter, ein hübscher Mann mit treuherzigen braunen Augen, der hier im Hause »Bernhard« genannt wurde und sich mit Anna duzte, kam an den Sonntagnachmittagen von seinem nicht allzu fernen Hof herübergeritten. Die beiden jungen Männer hatten sich bald als Schulkameraden aus den unteren Klassen des Gymnasiums erkannt, und Rudolf fand, je kräftiger er wurde, an Bernhards frischem Wesen immer mehr Gefallen. Desto geringeres Glück machte dieser bei Rudolfs Mutter, die ihn sichtlich, freilich ohne ihn dadurch zu beirren, von oben herab behandelte; denn nur ihrem Auge war es nicht entgangen, daß auch der junge Hofbesitzer der blonden Pfarrerstochter eine ebenso stille als geflissentliche Verehrung widmete.
Eines Nachmittags war Bernhard zu Wagen und selbander angelangt; seine Schwester Julie, die ihm den Haushalt führte, saß an seiner Seite. »Das freut mich!« rief der Pastor, als er das frische Mädchen gleich darauf der Frau von Schlitz entgegenführte; »dieses Prachtkind mußten Sie noch kennenlernen!«
Aber die Dame blickte mit ziemlich kühlen Augen auf das »Prachtkind«, deren Antlitz nur zu sehr die Züge ihres Bruders zeigte; und die stürmische Begrüßung der von Anna herbeigeholten Kinder kam zur rechten Zeit.
Eine Stunde später, da sie mit der Pastorin am Fenster saß, sah Frau von Schlitz die beiden jungen Paare, Bernhard mit Anna und hinter diesen Rudolf mit der braunen Julie, auf einem Feldwege dem nahen Walde zuschreiten. Die Pfarrfrau, die sich heute ihre Freischützphantasien gönnte, hatte den noch einmal rückschauenden Mädchen lebhaft zugenickt. »Nicht wahr, Fernande«, wandte sie sich jetzt an ihre Jugendfreundin, »ich sage immer: ›Ännchen und Agathe‹. Nun hat das Ännchen gar einen Max zur Seite, um ihm die Grillen wegzuplaudern!«
Die Angeredete nickte nur, ohne die Augen von der Gruppe draußen abzuwenden, welche jetzt durch eine Biegung des Weges ihrem Blick entzogen wurde; sie wußte selbst nicht, war es Zorn oder ein Gefühl der Demütigung, das sie bedrängte; aber – gewiß, die Schwester war heute nicht ohne Absicht von dem Bruder mitgenommen worden!
– – Es kam doch anders, als ihr Scharfsinn, vielleicht auch, als Bernhard selber es gedacht hatte. Zum ersten Male sah Rudolf sich in Annas Gegenwart zu einer anderen gezwungen, und wiederum, als ob sich das von selbst verstehe, hatte sich zu ihr ein junger Mann gesellt, der nicht er selber war.
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