Ich begreife viel schwerer den einen Umstand, daß mir der Vater ein solches von keinem Worte motivierte Wegbleiben schweigend erlaubte, als den andern natürlichen, daß ich ein Narr war und den Kaplan zur nämlichen Zeit fortfloh, als ich ihn fortliebte. Zwar war ich mit Freuden zwischen ihm und dem Vater die kleine Fußbotenpost; und mit Liebeblicken und Freudenpulsen sah ich ihn fast nach jeder Kindtaufe (die Taufglocke läutete meinem Ohre deshalb eine Frohmesse ein) bei meinem Vater einspringen und – ich las oder schrieb unweit ihres Sprechtisches – den halben oder ganzen Abend da verplaudern; aber ich hatte mir wie gesagt, das Schachbrett in den Kopf gesetzt und blieb aus. Himmel! wer mag in meiner und in so mancher poetischen und weiblichen Natur in die besten Honigzellen einen solchen Sauerhonig (wenn nicht Honigessig) des Liebens und Grollens eintragen, eine solche widerstreitende Mixtur, die oft die schönsten Tage, ja vielleicht die schönsten Herzen vergiftete und wundfraß? – Wahrlich, wäre oft der heißesten Liebe nur noch eine halbe Unze Lichtäther oder Verstand beizumischen: ich wüßte nichts darüber, über die wärmste Liebe; so aber gerinnt sie zu ihrem sauern Boden- und Gegensatz.

 

Scherz mit dem Rektor

Da die Schraubgenossenschaft wußte, daß er in der Schule die Zeitung las und in seine Schulstubenpredigten jede lebendige Gegenwart aufnahm: so schickte sie ihm von der Erlanger Realzeitung, die er mithielt, ein altes Blatt aus den 70ger Jahren, das die schreckliche Hungernot in Italien, besonders in Neapel, grausend abschilderte. Die Jahrzahl der Zeitung hatten sie mit einem daraufgeflößten Dintenklecks gut genug versiegelt. Sie hörten es nun alle in ihre Stuben gleichsam hinein, wie er vom Fidibus-Blatt entzündet (er kann kaum den Abzug des Kantors erwarten) mit dem Erklären losbrechen und mit welchen Feuerfarben er jetzo – der Erlanger gab nur die Wasserfarben dazu – das hungrige Betteln, Schreien, Niederfallen, Verschlucken auf allen Gassen so nahe vor die Schwarzenbacher Schuljugend rücken werde, daß es unentschieden sein werde, ob sie mit heißeren Tränen heimkommen werden oder mit heißerem Hunger. Und in der Tat in solchen Fällen der Schilderungen glaubt der Mensch kaum mehr, daß es noch etwas zu essen gibt in der Welt. Unter welche Ehrenpforten (oder auf welchen Ehrenbetten) noch abends der gute Herold des Hungers von der Spaßgenossenschaft für sein Rühren und Mahnen gebracht worden, als die Schützengesellschaft die Kinder besehen und vernommen, kann sich jeder denken, ich aber nicht berichten, weil ich erst dunkel und spät etwas erfahren habe. Alter gutmeinender Rektor! schäme oder ärgere dich indes nicht besonders über das Spaß- oder Stoßgevögel, das auf deine Kanzel-Tauben niederfahren will! Die heilige Taube hatte doch mit warmen Flügeln über unsern Herzen geschwebt und sie angebrütet. Für die angewärmte Seele ists einerlei ob sie für eine alte oder für eine junge Hungerzeit mit den Schlägen des Wohlwollens gezittert.

 

Kuß

Wie früher dem Kirchenstuhl gegenüber, so konnt' ich nicht anders als zur erhöhten Schulbank hinauf – denn sie saß ganz oben, die Katharina Bärin – mich verlieben, in ihr niedliches rundes rotes blatternarbiges Gesichtchen mit blitzenden Augen und in ihre artige Hastigkeit, womit sie sprach und davonlief. Am Schulkarneval, das den ganzen Fastnachtvormittag einnahm [und] in Tänzen und Spielen bestand, hatt' ich die Freude, mit ihr den unregelmäßigen Hopstanz zu machen und so dem regelrechten gleichsam vorzuarbeiten und vorzutanzen. Ja bei dem Spiele »wie gefällt dir dein Nachbar« – wo man auf das Bejahen des Gefallens zu küssen befehligt wird und auf das Verneinen einem Hergerufnen unter einigen Ritterschlägen des Klumpsackes laufend Platz zu machen hat – trug ich letzte häufig neben ihr davon; eine Goldschlägerei, durch die meine Liebe wie das edelste Metall größer wurde, und ein unterhaltendes Abwechseln wie sie mir immer den Hof verbot und ich sie immer an den Hof rief, waltete ob.

Alle diese böslichen Verlassungen (desertio malitiosa) konnten mir die Seligkeit nicht abschneiden, ihr täglich zu begegnen, wenn sie mit ihrem schneeweißen Schürzchen und Häubchen über die lange Brücke dem Pfarrhause entgegenlief, aus dessen Fenster ich schauete. Sie freilich zu erwischen, um ihr etwas Süßes nicht sowohl zu sagen, als zu geben, z.B. einen Mundvoll Obst – dies war ich, so schnell ich auch durch den Pfarrhof eine kleine Treppe hinablief, um die Vorbeilaufende unten im Fluge zu empfangen, meines Wissens nie imstande. Aber ich genoß genug, daß ich sie vom Fenster aus auf der Brücke lieben konnte, was, hoff' ich, für mich nahe genug war, da ich gewöhnlich immer hinter langen Seh- und Hörröhren mit meinem Herzen und Munde stand. Ferne schadet der rechten Liebe weniger als Nähe. Wäre mir auf der Venus eine Venus zu Gesicht gekommen: ich hätte das himmlische Wesen mit seinen in solcher Ferne so sehr bezaubernden Reizen warm geliebt und es ohne Umstände zu meinem Morgen- und Abendstern erwählt zum Verehren.

Inzwischen hab' ich das Vergnügen, alle, welche in Schwarzenbach bloß ein wiederholtes Joditz der Liebe erwarten, aus ihrem Irrtum zu ziehen und ihnen zu melden, daß ich es zu etwas brachte. An einem Winterabende, wo ich meine Prinzessinsteuer von Süßigkeiten schon vorrätig hatte, der gewöhnlich nur die Einnehmerin fehlte, beredete der Pfarrsohn, der unter allen meinen Schulkameraden der schlechteste war, mich zum verbotenen Wagstücke, während ein Besuch des Kaplans meinen Vater beschäftigte, im Finstern das Pfarrhaus zu verlassen, die Brücke zu passieren und geradezu (was ich noch nie gewagt) in das Haus, wo die Geliebte mit ihrer armen Mutter oben in einem Eckzimmerchen wohnte, zu marschieren und unten in eine Art von Schenkstube einzudringen. Ob Katharina aber zufällig da war und wieder hinaufging, oder ob sie der Schelm mit seiner Bedientenanlage unter einem Vorwande herunterlockte, auf die Mitte der Treppe; oder kurz wie es dahinkam, daß ich sie auf der Mitte fand: dies ist mir alles nur zu einer träumerischen Erinnerung auseinandergeronnen; denn eine plötzlich aufblitzende Gegenwart verdunkelt dem Erinnern alles was hinter ihr ging. So stürmisch wie ein Räuber war ich zuerst der Geber meiner Eßgeschenke, und dann drückt' ich – der ich in Joditz nie in den Himmel des ersten Kusses kommen konnte, und der nie die geliebte Hand berühren durfte – zum ersten Male ein lange geliebtes Wesen an Brust und Mund. Weiter wüßt' ich auch nichts zu sagen, es war eine Einzigperle von Minute, etwas, das nie da war, nie wiederkam; eine ganze sehnsüchtige Vergangenheit und Zukunft-Traum war in einen Augenblick zusammen eingepreßt; – und im Finstern hinter den geschloßnen Augen entfaltete sich das Feuerwerk des Lebens für einen Blick und war dahin. Aber ich hab' es doch nicht vergessen, das Unvergeßliche.

Ich kehre wie eine Hellseherin aus dem Himmel auf die Erde zurück und bemerke nur, daß diesem zweiten Weihnachtfest der Ruprecht, da er ihm nicht vorlief, nachlief und ich nach Hause kommend schon unterwegs den Boten fand und zu Hause stark gescholten wurde über mein Auslaufen. Gewöhnlich fällt immer nach zu heißen Silberblicken der Glücksonne ein solcher Schlossen- und Schlackenguß. Was tat es mir? Mein Paradies war durch nichts zu ersäufen; denn blüht es nicht noch heute fort bis an diese Feder heran?

Es war, wie gesagt, der erste Kuß, und zugleich, wie ich glaube, der letzte dazu, wenn ich nicht absichtlich, da sie noch lebt, nach Schwarzenbach fahren und da einen zweiten geben will. Wie gewöhnlich nahm ich während meines ganzen Schwarzenbacher Lebens mit meiner telegraphischen Liebe vorlieb, welche noch dazu ohne einen antwortenden Telegraphen sich erhalten und beantworten mußte. Aber wahrlich, niemand tadelt die Gute weniger als ich, wenn sie damals schwieg oder jetzo noch – nach ihres Mannes Tode –; denn ich mußte mich später in fremdes Lieben und Herz immer erst langsam hineinreden; es half mir nichts, daß ich sogleich mit fertigem Gesicht und allem Außen schon dastand; allen diesen körperlichen Reizen mußte später erst die Folie der geistigen von mir unterlegt werden, bevor sie genugsam glänzten und blendeten und zündeten. Aber dies war eben das Fehlerhafte in meiner unschuldigen Liebezeit, daß ich, ohne Umgang mit der Geliebten, ohne Gespräche und Einleitung, ihr bei meiner dürren Außenseite die ganze Liebe auf einmal hervorgefahren zeigte und kurz daß ich ordentlich als der Judenbaum vor ihr stand, der ohne den Umschweif von Ästen und Blättern [die weiche feine Blüte aus der unansehnlichen Rinde hervortreibt.]

 

Abendmahl

 

Das Abendmahl steht auf dem Lande oder noch richtiger unter rechten Christen nicht bloß als eine christliche toga virilis da; nicht wie in Städten für Mädchen als die Einkleidung weniger in Nonnen als in Jungfrauen, sondern es ist die höchste und erste geistliche Handlung, das Bürgerwerden in der Gottes-Stadt; erst jetzo wird die frühere Wassertaufe eine wahre Feuertaufe und das erste Sakrament steht im zweiten verklärt und lebendiger wieder auf. Vollends Kinder eines Geistlichen, welche so oft die Augen- und Ohrenzeugen fremder Vorbereitungen zu diesem Sonnentage des Herzens gewesen, nähern sich ihm mit größerer Ehrfurcht. Diese stieg noch höher in mir durch den einjährigen Aufschub der Handlung, da meinem Vater das gesetzmäßige Alter von zwölf Jahren durch den 21ten März nicht reichlich genug abgelaufen zu sein schien.

Nun gebt diesen warmen Tagen der Religion noch einen Feuersprecher – nicht Besprecher – wie der Rektor ist, der uns die schreckliche, bloß dieser Religionhandlung eigentümliche Bedingung glühend vor die Seele hält, daß das Abendmahl, unbußfertig genossen, gleichsam wie ein Meineid, statt des Himmels eine Hölle gebe und daß ein Erlöser und Heiliger in einen unreinen Sünder einziehen und die seligmachende Kraft seiner persönlichen Gegenwart in eine vergiftende verwandeln müsse. Heiße Tränen, die er selber mit vergießen half, waren das wenigste, was seine Herzrede aus mir und andern hervortrieb; glühende Reue des vorigen Lebens und feurige Schwüre auf ein tadelloses füllten die Brust aus und arbeiteten nach seinem Schweigen darin fort. Wie oft ging ich vor dem Beichtsonnabende unter den Dachboden hinauf und kniete hin, um zu bereuen und zu büßen! Und wie wohl tat es dann an dem Beichttage selber, noch allen geliebten Menschen, Eltern und Lehrern, mit stammelnder Zunge und überfließendem Herzen alle Fehler abzubitten und diese dadurch gleichsam zu entsühnen.

Aber dann ruhte auch am Beichtabende ein sanfter lichter heller Himmel der Ruhe in der Seele, eine unaussprechliche nie wiederkommende Seligkeit, sich ganz rein, nämlich gereinigt und entsündigt zu fühlen, mit Gott und den Menschen einen heitern weiten Frieden abgeschlossen zu haben; und doch sah ich aus diesen Abendstunden des milden warmen Seelenfriedens noch auf die Morgenstunden der himmlischen Begeisterung und Entzückung am Altare hinaus.

Selige Zeit, wo der Mensch die schmutzige Vergangenheit von sich abgeschält hat und rein und weiß frei und frisch in der Gegenwart steht und so mutig in die Zukunft tritt! Wem aber kann sie wiederkehren als Kindern? – Denn in jener glücklichen Jugendzeit ist der volle Seelenfriede leichter zu gewinnen, weil der Kreis von Opfern, die er fodert, kleiner ist und die Opfer geringfügiger; indes die verworrenen und ausgedehnten wichtigen Verhältnisse des ältern Menschen durch Lücken und Zögern vollständiger Hingebung den himmlischen Regenbogen des Friedens nur unvollendet und nicht wie die Frühzeit, zu einem Zirkel zusammengewölbt zulassen.