Ich habe meine Aufgabe nicht preisgegeben. Jenes »Erste Kapitel«, das eine Last ohnegleichen tragen soll, steht leer … Denn dieses hier, wiederhole ich zum Schluß unter allgemeiner Zustimmung, ist keines. Sondern das Zweite Kapitel übernimmt das Erste Kapitel.

Zweites Kapitel

Worin ich meinem Freund B. H. begegne, der mich darauf aufmerksam macht, daß ich unsichtbar bin.

»Wie, bist du nicht tot, B. H.?« fragte ich meinen ältesten und besten Freund und streichelte seine Hand, glücklich, ihn wiederzusehen. Es fiel mir ein Stein vom Herzen bei dieser Begegnung nach so vielen Jahren. Ich hatte B. H. gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er war von der großen Flucht vor den Nazis nach Indien verschlagen worden, weit in den Norden, an die tibetanische Grenze, irgendwohin in die Nähe von Darjeeling, wo der Krieg jeder Verbindung zwischen uns ein Ende setzte. Wer weiß, vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, ihm noch einmal einen Brief zu schreiben oder mich an das Rote Kreuz zu wenden, um ihm zu helfen. Obwohl ich keinen Beweis dafür hatte, war es für mich ausgemacht, daß er zugrunde gegangen sein mußte … B. H. lächelte, wobei sein großer Kopf mit den schwarzen Haaren und dunklen schönen Augen ein wenig zitterte, ja beinahe wackelte, wie es schon in unsrer gemeinsamen Schulzeit seine Art war, wenn es ihm gelang, eine überlegene Bemerkung zu machen.

»Ich bin nicht tot«, zwinkerte B. H. »Ich lebe, wie du siehst, aus vollen Lungen. Hingegen bist du tot, F. W., und länger, viel länger, als du dich überhaupt erinnern kannst …«

»Wieso bin ich tot, B. H.?« fragte ich, von seiner Offenheit verletzt, die mir taktlos erschien, obwohl ich mir doch vorhin denselben Verstoß hatte zuschulden kommen lassen.

B. H. sah mich lange und ernst an, ehe er sich zur Frage entschloß:

»Kannst du mich sehen, F. W.?«

»Natürlich kann ich dich sehen. Wie machst du es, daß du mit Fünfzig noch immer wie mit Fünfundzwanzig ausschaust …? Nein, auch das ist noch übertrieben. Du siehst genau so aus wie am Tag unserer Abiturientenprüfung …«

»Ich bin nach der augenblicklich gültigen Lebenszeitrechnung Hundertundsieben«, nickte er sachlich, »aber wie steht es mit dir, F. W.? Kannst du zum Beispiel dich selbst sehen?«

Ich sah an mir herab. Ich konnte mich nicht sehen. Ein kurzer galvanischer Schreck durchzuckte mich. Ich war unsichtbar. Unsichtbar für andere, das ist wohl beklemmend genug. Aber unsichtbar für mich selbst? Ich versuchte, meine aufgescheuchten Gedanken und Empfindungen zusammenzuraffen. Zuerst erkannte ich mit Verwunderung, daß ich mich wohlfühlte, sogar ausnehmend wohl, viel wohler jedenfalls als vorhin (wann, vorhin?), ehe ich – vermutlich aus einem von diesem Orte schon sehr entfernten Tor tretend – auf eine unbekannte Straße geraten war, um plötzlich meinem alten Freunde B. H. zu begegnen. Ich bin nicht sicher übrigens, ob ich von seiner Straße zu reden das Recht habe. Es war gebahnter Boden, zweifellos, der sich gleichmäßig nach allen Seiten hin zum Horizont erstreckte, ohne rechts und links von Böschungen oder Straßengräben begrenzt zu sein. Unter meinen Füßen wuchs ein kurzer trockener Rasen, der den Schritt erstaunlich förderte und das Gehen zu einem neuartigen Vergnügen machte. Dieser Rasen bestand aus wohlgepflegtem Gras. Das Gras aber hatte die leiseste grünliche Tönung, die letzte Spur von Chlorophyll verloren. Es wuchs zum Teil weiß, zum Teil eisengrau auf dem glatten Erdboden, wie das Haar auf dem Schädel eines zwar noch tüchtigen, aber schon ergreisenden Mannes. Ich verwende die Phrase »unter meinen Füßen« nicht aus einem stilistischen Versehen, wie mancher Leser wohl schon angenommen hat.