Es erspart uns sogar das Abenteuer von Raketen-Luftreisen der primitiven Zeit, jene Reiseart, die dem Sauerstoffhaushalt menschlicher Herzen und Lungen einst so übel zusetzte, daß gewisse Generationen es nicht über fünfzig Jahre Lebensalter bringen konnten. All die Generationen, die durch die Luft hin und zurück eilten, um zu kaufen und zu verkaufen, mußten den frühen raschen Herztod hinnehmen wie ein Naturgesetz. Diese Schädigungen hat gottlob die Menschheit überwunden, ich vermag dir gar nicht zu sagen, seit wie vielen Jahrzehntausenden! Die Historiker sind sich nicht einig über den genauen Zeitpunkt, wann die materielle Reiseart von der mathematisch-mentalen Reiseart abgelöst worden ist. Daß sich dieser Zeitpunkt aber im dunkelgrauesten Altertum verliert, darüber herrscht kein Zweifel …«
»Mathematisch-mentale Reiseart?« fragte ich bestürzt.
»Diese Sache«, tröstete er mich, »beruht auf einer urtümlich simplen Einsicht von der Relativität aller bewegten Punkte des Kosmos im Verhältnis zueinander. Simpel wie alles Große ist diese Sache, und man sieht geradezu den braven, namenlosen Handwerksmann mit glattem, schlichtem Weißhaar vor sich, der in mythischer Vorzeit die Relativitätstheorie ausgesonnen hat. Kurz gefaßt: wir bewegen uns, wenn wir reisen, nicht auf das Ziel zu, sondern wir bewegen das Ziel auf uns zu.«
Während dieser Erklärungen hielt er mir ein Ding unter die Nase, das größer war als eine Taschenuhr und kleiner als ein Barometer, also ungefähr einem bescheidenen Kompaß glich. Da ich auf B. H.’s abgebissene Fingernägel starrte, wurde ich nicht sogleich gewahr, daß ich Instrumente gleich diesem längst schon gesehen hatte. Es schien mir eines jener Geduldspiele aus meinem Kindheitsbesitz zu sein, bei denen man durch geschicktes Manövrieren bunte Kügelchen in die dazu bestimmten Löchlein praktizieren mußte.
»Ich verstehe nichts von Mathematik«, sagte ich ausweichend, während ich das alte Spielzeug betrachtete, staunend und von unsagbar schwermütigen Empfindungen bewegt.
»Die Mathematik ist nur ein Hilfsmittel«, beruhigte mich B. H. »Sie ist eine tautologische Operation, die ein Zeichen einem andern gleichsetzt, um durch solche Gleichsetzungen zu unbekannten Resultaten vorzudringen. Auf der Leiter der Gleichsetzungen läßt es sich freilich getrost herumklettern, wie du sehr bald selbst erfahren wirst.«
Und indem er mit stumpfem Zeigefinger auf das glasbedeckte Zifferblatt des Geduldspiels hinwies:
»Siehst du hier die beiden konzentrischen Kreise der kleinen Löchlein? Der äußere gehört der Mathematik an. Da müssen die blaßblauen Kügelchen hinein. Hier! Da du unsichtbar bist, kannst du gewiß auch ohne Brille diese Diamantschrift lesen …«
Und ich las wirklich ohne Brille und ohne Mühe: »›Galaktischer Zeitpunkt‹ – ›Planetarer Zeitpunkt‹ – ›Kontinentaler Zeitpunkt‹ – ›Örtlicher Zeitpunkt‹ – ›Galaktischer Raumpunkt‹ – ›Planetarer Raumpunkt‹ – ›Kontinentaler Raumpunkt‹ – ›Örtlicher Raumpunkt‹ – ›Genau Winkelneigung des Lichtstrahls‹.«
»So, da wären wir«, sagte B. H., während er mit jungenhafter Freude an seiner Überlegenheit die blaßblauen Kügelchen in die Löchlein hineinbalancierte, welche die obigen Beschriftungen zeigten. Die Geschicklichkeit, mit welcher er das Geduldspiel beherrschte, war mir geradezu unfaßlich.
»Ich verstehe nichts davon«, stieß ich hervor, »und ich will auch nichts davon verstehen.«
Unbeirrt von meinem Widerstand, setzte er seine Belehrung fort, mit dem Fingernagel den innern Kreis auf dem Zifferblatt des Instrumentes nachziehend:
»Siehst du, hier? Viel wichtiger als der mathematisch-astronomische ist der mentale Zirkel. Verzeih, den Begriff ›mental‹ könntest du vielleicht mißverstehen. Es wird damit nicht eine bloße Tätigkeit des Intellekts gemeint; als mental bezeichnen wir jede Seelenregung, jede Emotion, die vom Lichte des Bewußtseins reingewaschen und somit vergeistigt wird … Warum bist du unaufmerksam? Strengt es dich an, zuzuhören …? Hier, lies mit mir die Termini über den Löchlein, in die ich jetzt die hellen grünen Kügelchen einrollen lasse: ›Willensrichtung‹ – ›Veränderungsdrang‹ – ›Zielsicherheit‹ – ›Mutmaßliche Dauer der Ungeduld‹ – ›Mutmaßliche Dauer der Geduld‹.«
»Halt, B. H.«, unterbrach ich ihn, ernstlich verwirrt. »Ich bin eingeladen oder ›zitiert‹, was viel ärger ist, bei wildfremden Leuten. Ich weiß nicht, wie und wer diese Leute sind, wie sie heißen, und wie sie leben. Ich kenne nicht ihre Sprache, ihre Sitten und Gebräuche, ihr Zeitalter, das von dem meinigen, den Anfängen der Menschheit, vielleicht hundertzwölftausenddreihundertfünfundzwanzig Jahre getrennt ist. Du hast dich durch mehrere Wiedergeburten durchgeschlagen und davon ein Savoir Vivre behalten, mit dem du in jeder Gesellschaft weiterkommst. Weißt du denn, wie mir zumute ist, einem von Natur schüchternen und verlegenen Menschen, der schon im Jahre 1930 nur mit Schweißtropfen auf der Stirn ein fremdes Wohnzimmer betrat? Wie soll ich mich benehmen? Wie soll ich mich verhalten? Der einzige Vorteil, der meinen Nerven zugute kommt, ist der, daß ich unsichtbar bin. Du kannst mich nicht so mir nichts dir nichts der Friktion einer solchen Begegnung aussetzen, nach einer vollen Ewigkeit der Entwöhnung …«
»Da habe du keine Sorge«, lächelte er gütig. »Deine Schüchternheit, deine Verlegenheit entstammt ja nur einer menschenfresserischen Zivilisation, einer auf götzendienerischen Tabus errichteten Gesellschaft, wo Oben und Unten, Groß und Klein, Reich und Arm, Schön und Häßlich durch tödliche Abgründe voneinander getrennt lebten! Ich verspreche dir, du wirst den freundlichsten, den hübschesten, den taktvollsten Leuten bei der Hochzeitsgesellschaft begegnen, in wenigen Minuten … Siehst du, es fehlt nur mehr das letzte hellgrüne Kügelchen für das Löchlein, über welchem die Worte stehn: ›Scharf eingestellter Wunsch.‹«
»Hab doch ein Einsehn, B. H.«, bat ich, »ehe es zu spät ist. Du kannst mich doch nicht ohne alle Informationen und Ratschläge hineinschneien lassen in diese Welt! Vielleicht wäre es am klügsten, das Ganze jetzt noch rückgängig zu machen. Bitte, bitte, hilf mir! Vielleicht kannst du mich verschwinden lassen. Du weißt, ich bin stolz. Ich möchte mich nicht gern blamieren.«
So peinlich dieses Bekenntnis für einen Reiseschriftsteller auch sein mag, in diesem Augenblick war meine Eitelkeit, mein Hochmut und meine Angst größer als meine Neugier und die gebotene journalistische Abenteuerlust. B. H. aber kümmerte sich nicht um mich, sondern hatte jetzt einige Mühe, das letzte Kügelchen ins letzte Löchlein zu bringen und damit das Ziel auf uns zu bewegen.
»Sei nur nicht nervös«, sagte er, ohne aufzuschauen, »du wirst gar nichts spüren … Heute abend wirst du noch dein eigenes Instrument besitzen.«
Und er faßte mich mit seiner freien Hand unter, so daß wir eine Einheit bildeten.
Als das Kügelchen endlich in das Löchlein des »Scharf eingestellten Wunsches« sprang, gab es einen kleinen, angenehmen Knacks, nicht ein Zehntel so deutlich wie der leichte elektrische Schlag, den man an klaren Wintertagen in New York erhält, wenn einem jemand die Hand reicht. Ich erwartete nun, die Ferne werde lautlos aber rapid unserm festen Standort entgegenstürzen. Nichts dergleichen geschah.
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