Hier befand sich denn auch ihre Klingel und ihre Karte: »Wanda Grützmacher, Schauspielerin am Nordend-Theater.«
Und dieses Titels durfte sie sich rühmen wie manche Berühmtere. War sie doch ein Liebling der Bühne, die das Glück hatte, sie zu besitzen, und nicht nur ein Liebling des Publikums, sondern auch des Direktors, der, persönlicher Beziehungen zu geschweigen, vor allem das an ihr schätzte, daß sie, mit Ausnahme der Gage, vollkommen prätensionslos war und alles spielte, was vorkam. »Immer tapfer in die Bresche« war einer ihrer Lieblingssätze. Sie war überhaupt für leben und lebenlassen, behandelte delikate Vorkommnisse von einem gewissen höheren Standpunkt aus und hatte stereotype, dem urältesten Berliner Witzfonds entnommene Wendungen, in denen sich ihre Stellung zum »Ideal« ausdrückte. Sie zog dementsprechend »ein gutes Gehalt einer schlechten Behandlung vor«, und wenn ihr bei Soupers mit Bourgeoiswitwern, einer ihr besonders sympathischen Gesellschaftsklasse, die Speisekarte gereicht wurde, so zeigte sie mit einem ihr kleidenden und seine Wirkung nie verfehlenden Ernst auf das rasch als Bestes und Teuerstes Erkannte, jedesmal feierlich hinzusetzend: »Dafür laß ich mein Leben.«
So Wanda Grützmacher, Tieckstraße 27a.
Olga, die sonderbarerweise noch nie Bestellungen bei der Schauspielerin zu machen gehabt hatte, klingelte zunächst vorn bei Schlichtings, und Fräulein Flora Schlichting erschien denn auch, halb verschlafen, an der Tür und öffnete.
»Is Fräulein Wanda zu Haus?«
»Zu Haus is sie; ich glaube, sie schläft. Hast du was abzugeben?«
»Ja. Aber ich soll es ihr selber geben.«
»I, gib man...« Und damit griff sie nach dem Brief.
Olga zog aber energisch zurück. »Nein, ich darf nich...«
»Na, denn komme morgen wieder.«
Wanda, trotzdem sie nicht Wand an Wand mit der Schlichtingschen Vorderstube wohnte, mußte trotzdem von dieser Unterhaltung gehört haben, denn als eben die Tür zugeworfen werden sollte, war sie, wie aus der Erde gewachsen, da und sagte: »Gott, Olgachen. Was bringst du denn, Kind? Mutter is doch nich krank?« Olga hielt ihr statt aller Antwort den Brief entgegen. »Ach, ein Brief. Na, denn komm in meine Stube, daß ich ihn lesen kann. Hier is es ja stockduster und wahrhaftig nicht zu merken, daß man bei 'nem Glaser wohnt.«
Dabei nahm sie das Kind bei der Hand und zog es mit sich durch die mit jedem Schritte dunkler werdende Schlichtingsche Wohnung, bis in ihre Hinterstube hinein. Hier mußte sie lachen, als sie den sonderbaren Briefverschluß ihrer Freundin Pauline sah; dann aber öffnete sie die verklebte Stelle mit einer aus ihrem dicken, schwarzen Zopf genommenen Haarnadel und las nun mit sichtlicher Freude:
»Liebe Wanda. Er kommt heute wieder, was mir sehr verkwehr is, denn ich mache gerade reine. Jott, ich bin so ärgerlich und bitte Dich bloß: komm. Ohne Dir is es nichts. Stine kommt auch. Komm Klocker 8, aber nich später und behalte lieb
Deine Freundin
Pauline Pittelkow,
geb. Rehbein.«
Wanda steckte den Brief unter die Taille, schnitt Olga ein großes Stück von einem in einer Fayenceterrine mit Deckel aufbewahrten altdeutschen Napfkuchen ab und sagte dann: »Un nu grüße Mutterchen und sag ihr, ich käme Punkt acht. Mit 'm Schlag. Denn wir von 's Theater sind pünktlich, sonst geht es nich. Und wenn du wiederkommst, Olgachen, so kannst du gleich die kleine Hoftreppe raufkommen, bloß drei Stufen, da brauchst du vorn nich durch und is kein Fräulein Flora nich da, die dich anschreit und wegschicken will. Hörst du?« Und in einer Art Selbstgespräch setzte sie hinzu: »Gott, diese Flora; je weniger Bildung, je mehr Einbildung. Ich begreife diese Menschen nich.«
Olga versprach, alles zu bestellen, und eilte mit ihrem Beutestück ins Freie. Kaum draußen, sah sie sich noch einmal um und biß dann herzhaft ein und schmatzte vor Vergnügen. Aber schnöder Undank keimte bereits in ihrer Seele, und während es ihr noch ganz vorzüglich schmeckte, sagte sie schon vor sich hin: »Eigentlich is es gar kein richtiger... Ohne Rosinen... Einen mit Rosinen eß ich lieber.«
Viertes Kapitel
Als Olga, nach Erledigung aller ihr aufgetragenen Gänge, den zu Kaufmann Marzahn an der Ecke natürlich mit eingerechnet, wieder nach Hause kam, fand sie hier alles verändert und Tante Stine damit beschäftigt, die rote Wollschnur der Tüllgardinen in die messingblechenen Halter einzuhaken. Überall herrschte Sauberkeit und Ordnung – nur in der Nebenstube war man nicht fertig geworden –, und das einzige, was als Störung gelten konnte, war ein eben abgegebener Korb mit Weinflaschen und eine vorläufig auf einen danebenstehenden Stuhl gesetzte Hummermayonnaise.
Olga berichtete, daß Wanda kommen würde, was von seiten der Pittelkow mit sichtlicher Freude vernommen wurde. »Wenn Wanda nich da is, is es immer bloß halb.
1 comment