Darauf saßen zwei geflügelte Wesen, die saugten Blut.

Und der Seher fuhr fort:

»Wahrlich, kein Ding ist so, wie es aussieht. Sondern es ist besessen von einem Lebgeist und Kobold, der steht still, alslang man ihn anschaut. So man ihn aber entlarvet, verändert er sich und wird ungeheuer. Jahrelang trug ich die Last der Dinge, die ihre Befreiung wollten. Bis ich erkannte und sah ihre Dimension. Da hob mich die Inbrunst. Entsetzliches Leben! Da breitete ich meine Arme, zur Abwehr, und flog, flog pfeilgerad über die Dächer.«

Hier konnte man sehen, daß der Seher, vom Brausen der eigenen Worte betört, nicht hatte unhaltbare Versprechungen ausgelassen. Mit beiden Händen laut flatternd, erhob er sich, flog wie zum Versuch ein gutes Stück Wegs in den Abend, neigte dann aber die Kurve und kam, unter einigem Hüpfen, leichthin wieder zu Stand.

Der Pöbel, der bis zu den Hüften allseits des Markts aus den Fenstern hing, war erschrocken, schüttelte aber, da ihn das Schauspiel befremdete, ungläubigen Mißbehagens den Kopf, schwenkte aus Leibeskräften die Salztrompeten und mitgebrachten Papierlaternen und schrie: »Das Vergrößerungsglas! Das Vergrößerungsglas!«

Es war nämlich bekannt geworden, daß der Seher bei seinen Gängen des öfteren sich eines solchen Glases bediente, und so glaubte man denn nichts anders, als daß das Ganze nur ein Schwindel des Sehers sei, der mit solchem Instrument seine Schliche bemäntle. Auch gab es ein Intermezzo, indem eine neugierige Frau, die heftig an einer Fahnenstange geflattert hatte, abriß und vom Abendwind über die Dächer nach Osten getrieben wurde. Item: es flog ein Hahn mit zerfederter Sichel hoch über die Fächer der Damen, das galt als Zeichen anschlägiger Eitelkeit.

In der Tat zog der Seher, bestürzt und entmutigt, den Vergrößerungsspiegel aus der Tasche. Einen Spiegel beiläufig vom Umfange einer russischen Schaukel, wie sie auf Jahrmärkten zu sehen sind. Außerordentlich fein geschliffen das Glas, silbern gefaßt und an langem Holzstiele zierlich befestigt. Er hielt diesen Spiegel in tragischer Pose hoch über sich, stob plötzlich empor, zersprengte den Spiegel, die Trümmer klirrten, und er entschwand in die gelben Meere des Abends.

Die Glasscherben des zerbrochenen Wunderspiegels aber zerschnitten die Häuser, zerschnitten die Menschen, das Vieh, die Seiltänzereien, die Fördergruben und alle Ungläubigen, so daß sich die Zahl der Verschnittenen mehrte von Tag zu Tag.

 

Das Karussellpferd Johann

 

Man schreibt den Sommer 1914. Eine phantastische Dichtergemeinde wittert Unrat und faßt den Entschluß, ihr symbolisches Steckenpferd Johann rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Wie Johann sich erst sträubt und dann einwilligt. Irrfahrten und Hindernisse unter Führung eines gewissen Benjamin. In fernen Ländern begegnet man dem Häuptling Feuerschein, der sich jedoch als Polizeispitzel entpuppt. Daran geknüpft historiologische Bemerkung über die Niederkunft einer Polizeihündin in Berlin.

 

»Eines ist gewiß«, sprach Benjamin, »Intelligenz ist Dilettantismus. Intelligenz blufft uns nicht mehr. Sie schauen hinein, wir schauen heraus. Sie sind Jesuiten der Nützlichkeit. Intelligent wie Savonarola, das gibt es nicht. Intelligent wie Manasse, das gibt es. Ihre Bibel ist das bürgerliche Gesetzbuch.«

»Du hast recht«, sagte Jopp, »Intelligenz ist verdächtig: Scharfsinn verblühter Reklamechefs. Der Asketenverein ›Zum häßlichen Schenkel‹ hat die platonische Idee erfunden. Das ›Ding an sich‹ ist heute ein Schuhputzmittel. Die Welt ist keß und voll Epilepsie.«

»Genug«, sprach Benjamin, »mir wird übel, wenn ich von ›Gesetz‹ höre und von ›Kontrast‹ und von ›also‹ und ›folglich‹. Warum soll der Zebu ein Kolibri sein? Ich hasse die Addition und die Niedertracht. Man soll eine Möwe, die in der Sonne ihre Schwingen putzt, auf sich beruhen lassen und nicht ›also‹ zu ihr sagen, sie leidet darunter.«

»Also«, sprach Stiselhäher, »lasset uns das Karussellpferd Johann in Sicherheit bringen und einen Kantus singen auf das Fabelhafte.«

»Ich weiß nicht«, sprach Benjamin, »wir sollten doch lieber das Karussellpferd Johann in Sicherheit bringen. Es sind Anzeichen vorhanden, daß Schlimmes bevorsteht.«

In der Tat waren Anzeichen vorhanden, daß Schlimmes bevorstand.