Roquairol hatte keine belgische Venen, worin wie im Saturn alle Feuchtigkeiten als feste gefrorne Körper liegen, sondern afrikanische Arterien, worin wie im Merkur geschmolzene Metalle umlaufen. Als die Gräfin bei seiner Schwester war, versucht' er, mit der Keckheit vornehmer Knaben, sein mit einem Geäder von Zündstricken gefülltes Herz als einen guten Brander auf ihres zuzutreiben; aber sie stellte die Schwester als Feuermauer vor sich. Zum Unglück ging sie zufällig als Werthers Lotte gekleidet in die heutige Redoute, und die Pracht ihrer despotischen Reize wurde von lauter dunkel-glühenden Augen hinter Larven verschlungen und umblitzt; er nahm seine innere und äußere ab, drang an sie und forderte mit einiger Eile – weil sie abzureisen drohte – und mit einiger Zuversicht – auf dem Liebhabertheater errungen – und mit pantomimischer Heftigkeit – womit er auf diesem immer die schönsten Nachtmusiken der klatschenden Hände gewonnen – nichts vor der Hand als Gegenliebe. Werthers Lotte kehrte ihm stolz den prangenden Rücken voll Locken, er lief außer sich nach Hause, nahm Werthers Anzug und Pistole und kam wieder. Dann trat er mit einem physiognomischen Orkan des Gesichts vor sie hin und sagte – das Gewehr vorzeigend –, er mache sich hier auf dem Saale tot, falls sie ihn verstoße. Sie sah ihn ein wenig zu vornehm an und fragte, was er wolle. Aber Werther – halb trunken von Lottens Reizen, von Werthers Leiden und von Punsch – drückte nach dem fünften oder sechsten Nein (an öffentliches Agieren schon gewöhnt) vor der ganzen Maskerade das Schießgewehr auf sich ab, lädierte aber glücklicherweise nur das linke Ohrläppchen – – so daß nichts mehr hineinzuhängen ist – und streifte den Seitenkopf. Sie entfloh plötzlich und reisete sogleich ab, und er fiel blutend darnieder und wurde heimgetragen. – –
Diese Geschichte blies viele Lampen an Falterles Ehrenpforte aus – und an Wehmeiers seiner an –; aber sie setzte auf einmal Albinen in Angst über den ebenso wilden Tollkopf Albano. Sie fragte nach ihm in der Domestikenstube; und der Bote half ihr auf die Spur durch den Knaben ohne Hut. Sie eilte selber in ihrem gewöhnlichen Übermaße der Angst durch das Dorf hinaus. Ein guter Genius – der Hofhund Melak – war da der Musculus Antagonista und Schlagbaum des Flüchtlings geworden. Melak wollte nämlich mit; und Alban wollte einen dem Schloßhofe so bedienten und öfter als der Nachtwächter darin abrufenden Schirmvogt und Küstenbewahrer wieder heim haben. Melak war in seinen Sachen fest; er verlangte Gründe, nämlich nachgeworfene Prügel und Steine – allein der weinende Knabe, dessen glühende Hände die kalte Schnauze des gutwilligen Viehes erfrischte, konnte ihm kein böses Wort geben, sondern er drehte bloß den wedelnden Hund um und sagte leise: »Fort!« – Aber Melaken waren bloß laute Dekrete etwas; er kehrte immer wieder um; und in diesen Inversionen – während welchen in Albanos ohnehin immer auf dem Brockengebirge stehenden Geist, der im Nebel Riesenformen ziehend wachsen sah, seine Tränen und jedes unverdiente Wort tiefer einbrannten – fand ihn die unschuldige Mutter.
»Albano,« sagte sie freundlich-verstellt, »in der kalten Nachtluft bist du?« – Von diesem Nachgehen und Anreden der allein beleidigten Seele wurde seine volle, der eine Ergießung, es sei durch Tränen oder Galle, nötig war, so sehr ergriffen, daß er mit einem gichterischen Reißen des überspannten Herzens an ihren Hals aufsprang und sich daran aufgelöst und weinend hing. Er konnte ihren Fragen seinen harten Entschluß nicht gestehen, sondern drückte sich bloß stärker an ihr Herz. – Jetzt kam besorgt auch der bereuende Direktor nach, den die kindliche Stellung umschmolz, und sagte: »Närrischer Teufel, hab' ich es denn so böse gemeint?« und nahm zurückführend die kleine Hand. Wahrscheinlich war Albanos Zürnen durch die ergoßne Liebe erschöpft und durch den versöhnten Ehrgeiz befriedigt; folgsam und sogar – was sonderbar scheint – mit größerer Liebe gegen Wehrfritz als gegen Albine ging er mit ihnen zurück und weinte unterwegs bloß aus zarter Bewegung.
Als er ins Zimmer trat, war sein Angesicht wie verklärt, obwohl ein wenig geschwollen, die Tränen hatten den Trotz verschwemmt und alle sanfte Schönheitslinien seines Herzens auf sein Gesicht gezogen, wie etwa der Regen die Himmelsblume, die in der Sonne nicht erscheint, in durchsichtigen zitternden Fäden zeigt. Er stellte sich aufmerkend an den Vater und behielt den ganzen Abend dessen Hand; und Albine genoß in der doppelten Liebe ein doppeltes Glück; und sogar auf den Gesichtern der Bedienten lagen zerstreute Stücke von dem dritten Nebenregenbogen des häuslichen Friedens, dem Bundeszeichen der verlaufenen Wassersnot.
– Wahrlich, ich hab' oft den Wunsch getan – und nachher ein Gemälde daraus gemacht –, ich möchte dabeistehen können bei allen Aussöhnungen in der Welt, weil uns keine Liebe so tief bewegt als die wiederkehrende. Es müßte Unsterbliche rühren, wenn sie die beladnen, vom Schicksal und von der Schuld oft so weit auseinandergehaltnen Menschen sähen, wie sie, gleich der Valisnerie28, sich vom sumpfigen Boden abreißen und aufsteigen in ein schöneres Element und wie sie nun in der freiern Höhe den Zwischenraum ihrer Herzen überwinden und zusammenkommen. – Aber es muß auch Unsterbliche schmerzen, wenn sie uns unter dem schweren Gewitter des Lebens gegeneinander auf dem Schlachtfelde der Feindschaft ausgerückt erblicken, unter doppelten Schlägen und so tödlich getroffen vom fernen Schicksal und von der nahen Hand, die uns verbinden sollte! –
Dritte Jobelperiode
Methoden der beiden Kunstgärtner in ihrer pädagogischen Pelzschule – Schutzschrift für die Eitelkeit – Morgenrot der Freundschaft – Morgenstern der Liebe
17. Zykel
Wenn wir beide Schulstuben aufmachen, so sehen wir den Schachtelmagister vormittags über den zweidottrigen Eiern des Eleven sitzen und brüten, und den Exerzitienmeister nachmittags, so wie der Tauber das Nest in jener Tagszeit, die Taube in dieser hütet. –
Wehmeier wollte nun so gut wie sein Nebenrenner sich mit ganz neuen Lehren des Zöglings bemeistern; aber neue für diesen waren neue für ihn selber. Wie die meisten ältern Schullehrer wußt' er von der Sternkunde außer dem wenigen, was im Buch Josua stand, und von der Naturkunde außer den wenigen Irrtümern, die in seinen eher vergessenen als zerrissenen Heften standen, und von der Weltweisheit außer der Gottschedianischen, für die aber ein reiferer Eleve gehörte, und von andern Realien genau gesprochen – nichts, ausgenommen etwas Historie. Kamen ihm zuweilen in seiner literarischen Sarawüste, in welche ihn die quälende Schulstunden-Schraube ohne Ende und die Bettel- oder Kröpelfuhre eines mehr verschlackten als vererzten Lebens ohne Geld verwiesen hatten, neue Lehrmethoden oder neue Entdeckungen zu Ohren (zu Augen nie): so merkt' er den Augenblick, daß es seine eignen wären, nur schwach abgeändert; und er verhielt niemand das Plagium. Ich bitte aber alle seidene und gepuderte und lockige Prinzen-Instruktoren von Herzen: verdenket meinem armen, von den schweren dicken Erdlagen des Schicksals tief überbaueten Wehmeier seine unterirdische Optik und sein Krummstehen nicht zu sehr, sondern zählt seine acht Kinder und seine acht Schulstunden und seine nahen Funfziger in seiner Lebens-Höhle von Antiparos und entscheidet dann, ob der Mann damit wieder herauskann ans Licht! Aber von der Historie wußt' er, wie gesagt, doch etwas; und diese ergriff er als pädagogischen Diebsdaumen und Fortunatus-Wünschhut. Hatt' er nicht schon mit jener epischen ausmalenden Paraphrase, womit er die kleinste Marktflecken-Historie so interessant und lügenhaft erzählte (denn woher will ein guter Erzähler die 1000 kleinern, aber nötigen Züge nehmen als aus der Luft?), seinem Albano Hübners biblische äußerst rührend vorgetragen? Und wer weinte dabei mehr, der Lehrer oder der Schüler?
Nun hatt' er drei historische Wege vor sich offen. Er konnte den geographischen einschlagen, der mit der elendesten Geschichte von der Welt anfängt, mit der Landesgeschichte. Aber bloß höchstens Briten und Gallier können die Geschichte wie eine epische und eine Erdbeschreibung von hinten anfangen; hingegen eine haarhaarsche, eine baireuthische, eine Mecklenburger Landesväter-Patristik gibt hohlen Zähnen hohle Nüsse aufzubeißen, ohne Kern für Kopf und Herz. Und schwellet man nicht dadurch einen Holzzweig der Historie, auf welchen der Zufall der Geburt den jungen Borkenkäfer abgesetzt, unverhältnismäßig zu einem Stammbaume derselben an? Und was fragt man z.B. in Berlin nach einer Markgrafen-, oder in Hof nach der hohenzollerischen Regentenlinie?
Die zweite Methode ist die chronologische oder die vornen anspannende; diese hebt vom Geburtstage der Welt an, die nach Petav und den Rabbinen den 22sten Oktober29 vormittags auf die Welt kam, schreitet zum 28sten Oktober, dem ersten Flegel- und Tölpeltage des jungen Adams, dann über den 29sten, den ersten Sonn-, Buß- und Karenztag, hinweg und so fort bis zum Karenz- und Bußtage des neuesten Adamssöhnchens, das eben der Sache zuhorchen muß.
Diese Milchstraße war unserm Magister zu lang, zu öde, zu fremd.
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