Ich sah neulich zwei Pachterstöchter in der Kirche mit bloßem Busen; gewiß, ich ärgerte mich erschrecklich darüber! Wenn die Menscher Lockspeise für die Kerls auswerfen, so mögen sie auch wieder leiden, was recht ist. Solche Kreaturen hass' ich; und es wäre viel besser für sie gewesen, wenn die Blattern ihnen dicke Säume ins Gesicht genähet hätten. Aber das muß ich bekennen, an Hannchen hab' ich niemals ein solches üppiges Betragen wahrgenommen. Ich bin überzeugt, ein listiger Schuft muß sie betrogen haben, vielleicht hat er gar Gewalt gebraucht, und ich bedaure das arme Mädchen von ganzem Herzen!«
Jungfer Deborah gab allen diesen Meinungen Beifall, und der Dialog endigte mit allgemeinem und bitterem Schmälen auf Schönheit und mit mitleidsvollem Bedauern aller ehrlichen bescheidenen Mädchen, welche durch die gottlosen Künste ränkevoller Mannspersonen verführt werden.
Neuntes Kapitel.
Enthält Materien, welche des Lesers Erstaunen erregen werden.
Hannchen ging wieder nach Hause, ganz vergnügt über die Aufnahme, die ihr von Herrn Alwerth widerfahren war, dessen ihr erwiesene Güte sie mit bestem Fleiß öffentlich bekannt machte; teils vielleicht als ein Opfer, das sie ihrer eigenen Eitelkeit brachte, und teils aus der klüglichern Absicht, ihre Nachbarn mit sich auszusöhnen und ihr Gerede zum Schweigen zu bringen.
Allein obgleich diese letztere Absicht, wenn sie solche wirklich hatte, vernünftig genug scheinen mag, so entsprach doch der Erfolg keineswegs ihrer Erwartung; denn obgleich, als sie vor den Friedensrichter geladen ward, die allgemeine Vermutung dahin ging, sie würde nach einem Zucht- oder Spinnhause wandern müssen; – und einige junge Dirnen ausriefen: »das wär' ihr schon recht!« und sich mit dem Gedanken kitzelten, wie es Hannchen lassen würde, wenn sie in einem seidnen Kleide Hanf klopfte; – so gab's doch viele, welche anfingen, ihren Zustand zu bedauern: als es aber bekannt wurde, auf was Weise Herr Alwerth die Sache aufgenommen hatte, da kehrte sich das Gerede durchaus gegen sie. Die eine sagte: »ja, ja, Mamsell hat von Glück zu sagen, wahrhaftig!« Eine zweite schrie: »da sieht man's! Gunst geht über Kunst!« Und eine dritte: »ja, das kommt von ihrer Gelehrsamkeit!« Jedermann machte diese oder jene hämische Anmerkung, und alle stichelten auf die Parteilichkeit des Richters.
Das Betragen dieser Leute mag dem Leser unbesonnen und undankbar scheinen, wenn er an die Gewalt und Wohlthätigkeit des Herrn Alwerths denkt; allein, was seine Gewalt betrifft, so bediente er sich derselben niemals; und seine Wohlthätigkeit die übte er dermaßen, daß er dadurch alle seine Nachbarn gegen sich aufbrachte: denn es ist ein allen großen Männern wohlbekanntes Geheimnis, daß sie durch erwiesene Dienstleistung nicht immer einen Freund gewinnen, aber gewiß sich manche Feinde machen.
Indessen ward Hannchen durch die Vorsorge und Güte des Herrn Alwerth an einen Ort geführt, wo sie die bösen Zungen nicht weiter erreichen konnten; und als die Bosheit ihre Wut nicht länger an Hannchen auslassen konnte, fing sie an, einen andern Gegenstand ihrer Verleumdung zu suchen, und dies war kein geringerer, als Herr Alwerth selbst; denn es ging bald ein Geflüster umher, daß er selber der Vater des Findlings sei. Diese Mutmaßung vertrug sich nach der allgemeinen Meinung so wohl mit seinem Betragen, daß sie durchgängig Beifall fand; und das Geschrei gegen seine Sanftmut begann eine andere Wendung zu nehmen und verwandelte sich in Beschuldigung und Beschwerden über die Grausamkeit gegen die arme Dirne. Sehr ernsthafte gute Weiber schmälten auf solche Männer, welche erst Kinder zeugten und sie dann verleugneten. Auch fehlte es nicht an einigen, welche nach Hannchens Abreise zu verstehen gaben, sie wäre hinweggedräuet worden aus einer Absicht, die zu schwarz wäre, um sie zu nennen; und diese ließen sich nicht selten verlauten, die ganze Sache wäre einer richterlichen Untersuchung wohl wert, und gewisse Leute sollten mit Gewalt angehalten werden, das Mädchen wieder ans Tageslicht zu bringen.
Diese Verleumdungen hätten vermutlich für eine Person von einem zweideutigern und verdächtigern Charakter als Herrn Alwerth seiner war, böse Folgen hervorbringen können, (wenigstens würden sie Unruhen und Mißvergnügen veranlaßt haben) allein in diesem Falle thaten sie keine solche Wirkung; und weil er sie herzlich verachtete, so dienten sie bloß zum unschuldigen Zeitvertreib für die guten Plauderschwestern in der Nachbarschaft.
Da wir indessen nicht wohl zu erraten vermögen, von was für einer Gemütsfarbe unser Leser ist, und da einige Zeit darüber hingehen wird, bevor wir etwas weiter von Hannchen zu hören bekommen, so halten wir für ratsam, ihm hier so geschwind als möglich die Anzeige zu thun, daß Herr Alwerth, wie sich in der Folge weiter zeigen wird, nicht der geringsten strafbaren Absicht schuldig war. Er hatte in der That nichts weiter als einen politischen Irrtum begangen, da er Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit milderte und sich nicht entschließen konnte, die gutherzige Neigung des Pöbels1 zu befriedigen, indem er ihnen in Hannchens Person einen Gegenstand verschaffte, an dem sie ihr Mitleid üben könnten; denn um sie bedauern zu können, hätte dieser gutherzige Pöbel gewünscht, sie wäre nach dem Werkhause geschickt und solchergestalt durch eine schimpfliche Strafe in äußerste Not, Schande und Elend versetzt worden. Entfernt also, sich dieser Neigung zu fügen, wodurch alle Hoffnung der Besserung vernichtet und ihr selbst die Thüren verschlossen geworden, wenn ihre eigene Neigung sie nachher wieder auf den Pfad der Tugend leiten wollen, war Herr Alwerth vielmehr bedacht, das Mädchen durch die einzig möglichen Mittel zu dieser Rückkehr zu ermuntern. Denn ich fürchte, es sei nur allzu wahr, daß manches Weibsbild gerade dadurch in Liederlichkeit geraten und zur tiefsten Stufe des Lasters herabgesunken ist, weil sie ihren ersten Fehltritt zu verbessern unfähig war. Dies wird, fürcht' ich, allemal der Fall sein, solange solche unglückliche Personen unter ihren vorigen Bekannten bleiben. Von Herrn Alwerth war es deshalb sehr weise gethan, daß er Hannchen nach einem Orte schaffte, wo sie das Vergnügen eines guten Leumunds genießen konnte, nachdem sie die kränkenden Folgen seines Verlustes gekostet hatte.
Nach diesem Orte (mag sein, welcher er will) wollen wir ihr eine glückliche Reise wünschen, und für jetzt sowohl von ihr als dem kleinen Findling, ihrem Kinde, Abschied nehmen, weil wir dem Leser Sachen von größerer Wichtigkeit mitzuteilen haben.
Fußnoten
1 So oft dies Wort in unsern Schriften vorkommt, bezeichnet es Personen ohne Tugend und Verstand unter allen Ständen, und zuweilen werden dadurch viele vom höchsten Range gemeint.
Zehntes Kapitel.
Alwerths Gastfreundschaft; nebst einem kurzen Entwurf des Charakters zweier Brüder, eines Geistlichen und eines Offiziers, welche Alwerths Gastfreunde waren.
Alwerths Haus, so wenig als sein Herz, waren vor irgend einem Teile der Menschenkinder verschlossen; besonders aber standen sie Männern von Verdiensten offen. Die Wahrheit zu sagen, war dieses das einzige Haus im Königreiche, wo man bloß deswegen eine Mahlzeit zu genießen hatte, weil man solcher wert war.
Vor allen andern teilten Männer von Talenten und Gelehrsamkeit den vornehmsten Platz in seiner Zuneigung; und auf diese verstand er sich sehr gut: denn, ob er gleich nicht den Vorteil einer gelehrten Erziehung genossen hatte, so waren doch seine natürlichen Fähigkeiten genügend, durch eine ununterbrochene obgleich späte Anstrengung und durch häufigen Umgang mit den ausgezeichnetsten Gelehrten es dahin zu bringen, daß er in den meisten Zweigen der Litteratur als ein zulässiger Richter erkannt werden konnte.
Kein Wunder ist es, daß zu einer Zeit, wo diese Art von Verdienst so wenig nach der Mode ist und wo so wenig Rücksicht darauf genommen wird, Männer, die es besitzen, sich so pferchgierig nach einem Orte drängen, wo sie sicher sind, mit so vielem Wohlgefallen aufgenommen zu werden; wo sie wirklich fast eben die Bequemlichkeiten einer wohlhabenden Wirtschaft genießen können, als ob sie ein unstreitiges Erbschaftsrecht darauf hätten: denn Herr Alwerth war keineswegs einer von diesen großmütigen Personen, welche bereit und willig sind, Männer von Witz und Gelehrsamkeit aus höchster Milde mit Essen, Trinken und Wohnung zu belehnen, und dagegen keine andere Gegenleistung fordern als Unterhaltung, Unterricht, Schmeichelei und Unterthänigkeit; oder kurz, daß besagte Männer die Zahl der Diener des Hauses vermehren ohne die Livree ihres Herrn zu tragen und ohne von ihm Jahrlohn zu bekommen.
In diesem Hause war vielmehr jeder Fremde oder Besuchende völlig Herr seiner Zeit, und so wie er alle seine Wünsche befriedigen konnte, die nicht von den Gesetzen der Tugend und Religion verboten waren, so konnt' er auch, sobald es seine Gesundheit erforderte oder wenn ihn seine Neigung zur Mäßigkeit oder gar zur Enthaltsamkeit antrieb, von jeder Mahlzeit wegbleiben oder solche verlassen, wenn ihm dazu die Lust ankam, ohne mit Nötigen geplagt zu werden: denn in der That hat das Nötigen der Vornehmen beständig einen starken Anstrich von Befehlen. Hier hingegen war jedermann vor dieser groben Höflichkeit sicher, nicht nur diejenigen, deren Gesellschaft auch an allen andern Orten wegen Gleichheit der Glücksumstände für Ehre und Gefälligkeit geachtet wird, sondern selbst jene, welche wegen ihrer dürftigen Umstände solche Häuser gern als milde Stiftungen benutzen, und welche an den Tafeln großer Herren eben deswegen weniger willkommen sind, weil gerade sie solcher bedürfen.
Unter andern von dieser Gattung war Doktor Blifil, ein Mann, der das Unglück gehabt hatte, durch den Eigensinn seines Vaters die Vorteile großer Geistesgaben zu verlieren, weil er ihn zu einer Profession erziehen wollte, wozu er keine Lust hatte. Aus Gehorsam gegen diesen Eigensinn war der Doktor in seiner Jugend genötiget gewesen, die Arzneikunde zu studieren, oder um besser zu sagen, sollte er sie noch studieren; denn in der That waren Bücher in diesem Fache beinahe die einzigen, mit denen er unbekannt war; und zum Unglück für ihn war der Doktor Meister in fast jeder andern Wissenschaft, nur nicht in der, mit welcher er sein Brot verdienen sollte; wovon dann die Folge war, daß der Doktor in seinem vierzigjährigen Alter kein Brot zu essen hatte.
Ein solcher Mann wie dieser war sicher, eine freundliche Aufnahme an Herrn Alwerths Tafel zu finden, welcher Unglück allemal für eine Empfehlung hielt, wofern nur die Person sich solches nicht selbst zugezogen hatte, sondern durch die Thorheit oder Bosheit anderer litt. Neben diesem negativen Verdienste hatte der Doktor auch eine positive Empfehlung: diese war ein großer Anschein von Religion. Ob diese Religion wirklich war, oder nur im Schein bestand, das getrau' ich mir nicht zu sagen, weil ich keinen Probierstein besitze, womit ich die wahre von der falschen unterscheiden könnte.
Wenn dieser Zug in Doktor Blifils Charakter Herrn Alwerth gefiel, so entzückte er Fräulein Brigitta. Sie ließ sich in manchen Religionsstreit mit ihm ein, bei welchen Gelegenheiten sie beständig eine große Zufriedenheit über des Doktors Gelehrsamkeit äußerte, und keine viel geringere über die Komplimente, die er ihr öfters über ihre eigene machte. Die Wahrheit zu sagen, so hatte sie viel theologische Bücher in ihrer Muttersprache gelesen und mehr als einem benachbarten Pfarrer was zu schaffen gemacht. In der That war ihre gesellschaftliche Unterhaltung so rein, ihr Blick so unschuldig, und ihr ganzes Betragen so feierlich und ernsthaft, daß sie den Geruch der Heiligkeit ebensogut verdiente, als jene, von der sie den Namen führte, oder als irgend eine Heilige im römischen Kalender.
So wie Sympathien aller Art gerne Liebe gebären, so lehrt uns auch die Erfahrung, daß keine unter allen so geradezu auf diese Erzeugung hinwirkt, als Sympathien von religiöser Art zwischen Personen von verschiedenem Geschlechte. Der Doktor fand, er sei dem Fräulein Brittjen so angenehm, daß er jetzt anfing, einen unglücklichen Zufall, der ihm vor ungefähr zehn Jahren begegnet war, zu beklagen; nämlich seine Heirat mit einer andern Frau, die nicht nur noch wirklich am Leben, sondern was noch schlimmer, dem Herrn Alwerth als noch lebend bekannt war. Dies war ein verwünschter Riegel gegen die Glückseligkeit, welche er sonst bei dieser jungen Dame zu erlangen hinlängliche Wahrscheinlichkeit sah; denn was sträfliche Lüste und Begierden anbelangt, die stiegen gewiß nicht bei ihm auf. Und dies war entweder die Wirkung seiner Religion, wie sehr wahrscheinlich ist, oder der Reinheit seiner Leidenschaft, welche auf solche Dinge gerichtet war, wozu ihm allein der Ehestand und keineswegs ein strafbares Liebesverständnis verhelfen oder ein Recht geben konnte.
Er hatte nicht lange über diese Sache nachgegrübelt, als er sich erinnerte, daß er einen Bruder habe, dem diese böse Unfähigkeit nicht anklebte. Er zweifelte nicht, es würde diesem Bruder glücken; denn er glaubte zu bemerken das gnädige Fräulein sei nicht ohne Neigung zum heiligen Ehestande, und der Leser wird vielleicht, wenn er die Eigenschaften des Bruders vernimmt, die Zuversichtlichkeit nicht tadeln, womit er seinem Bruder einen guten Ausgang prophezeite.
Dieser Herr war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Er war von mittlerer Statur, und das, was man wohlgebaut nennt; er trug eine Narbe an der Stirn, welche weniger seiner Schönheit schadete, als von seiner Tapferkeit zeugte (denn er war Offizier und stand auf halbem Sold), er hatte gute Zähne, und wenn er wollte etwas Freundliches in seinem Lächeln. Obgleich von Natur sein Anstand, seine Mienen und sein Blick viel Rauhes hatten, so konnt' er doch dieses Rauhe jede Minute ablegen und ganz freundlich und wohlaufgeräumt scheinen. Es mangelte ihm nicht an guter Lebensart, auch nicht völlig an Witz, und in seiner Jugend hatte er manchen lustigen Streich vollführt; nun hatte er zwar seit kurzem einen ernsthafteren Charakter angenommen, aber wenn er wollte, konnte er wieder spaßhaft genug sein.
Er hatte ebenso wie der Doktor eine akademische Erziehung gehabt, denn sein Vater bestimmte ihn, aus eben der väterlichen Macht und Gewalt, deren wir vorhin erwähnt haben, zum geistlichen Stande. Da aber der alte Herr das Zeitliche segnete, bevor der Sohn ordiniert war, so wählte er Degen und Kokarde für Mantel und Kragen, und zog ein Offizierpatent vom Könige der Vokation zu einem Pfarrdienst vor.
Er hatte sich eine Leutnantsstelle unter den Dragonern gekauft, und brachte es hernach bis zum Kapitän. Weil er aber mit seinem Oberst Händel anfing, ward er genötigt seine Kompanie zu verkaufen, von welcher Zeit an er denn ein völliges Philisterleben geführt, sich aufs Lesen der heiligen Schrift gelegt hatte, und wegen eines Hanges zur Pietisterei eben nicht verdächtig war.
Es schien daher nicht unmöglich, daß ein solcher Mann bei einer Dame von so gottesfürchtiger Gesinnung, und deren Herz, außer einem Zuge zum heiligen Ehestande, überhaupt von keiner Sympathie zu einem besondern Gegenstand gefesselt war, sein Glück machen würde; warum aber der Doktor, der gewiß keine große Freundschaft für seinen Bruder hegte, doch seinetwegen darauf dachte, die Gastfreundschaft des Herrn Alwerth mit solchem Undank zu belohnen, das ist ein Punkt, der sich nicht so leicht aufklären läßt.
Gibt es wirklich einige Gemüter, die ihr Vergnügen ebenso im Unheilstiften suchen, wie andere, von denen man denken muß, daß sie es in der Tugend und im Wohlthun finden; oder steckt darin ein Vergnügen, bei einem Diebstahle, den man nicht selbst begehen kann, ein Helfershelfer zu sein? Oder endlich (welches die Erfahrung sehr wahrscheinlich zu machen scheint) finden wir einen Wohlgefallen darin, unsere Anverwandten emporzubringen, selbst dann, wenn wir nicht die geringste Liebe und Achtung für sie hegen?
Ob einer von diesen Bewegungsgründen auf den Doktor wirkte, das wollen wir nicht entscheiden, aber so verhielt sich die Sache.
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