Der zweite Fehler, den er beging, war die Verwechslung von Subsistenzmitteln und Beschäftigung. Daß die Bevölkerung stets auf die Mittel der Beschäftigung drückt, daß soviel Menschen beschäftigt werden können, soviel auch erzeugt werden, kurz, daß die Erzeugung der Arbeitskraft bisher durch das Gesetz der Konkurrenz reguliert worden und daher auch den periodischen Krisen und Schwankungen ausgesetzt gewesen ist, das ist eine Tatsache, deren Feststellung Malthus' Verdienst ist. Aber die Mittel der Beschäftigung sind nicht die Mittel der Subsistenz. Die Mittel der Beschäftigung werden durch die Vermehrung der Maschinenkraft und des Kapitals nur in ihrem Endresultate vermehrt; die Mittel der Subsistenz vermehren sich, sobald die Produktionskraft überhaupt um etwas vermehrt wird. Hier kommt ein neuer Widerspruch der Ökonomie an den Tag. Die Nachfrage des Ökonomen ist nicht die wirkliche Nachfrage, seine Konsumtion ist eine künstliche. Dem Ökonomen ist nur der ein wirklich Fragender, ein wirklicher Konsument, der für das, was er empfängt, ein Äquivalent zu bieten hat. Wenn es aber eine Tatsache ist, daß jeder Erwachsene mehr produziert als er selbst verzehren kann, daß Kinder wie Bäume sind, die die auf sie verwandte Auslage überreichlich wiedererstatten – und das sind doch wohl Tatsachen? –, so sollte man meinen, jeder Arbeiter müßte weit mehr erzeugen können, als er braucht, und die Gemeinde müßte ihn daher gern mit allem[519] versorgen wollen, was er nötig hat, so sollte man meinen, eine große Familie müßte der Gemeinde ein sehr wünschenswertes Geschenk sein. Aber der Ökonome in der Roheit seiner Anschauung kennt kein andres Äquivalent, als das ihm in handgreiflichem barem Gelde ausgezahlt wird. Er sitzt so fest in seinen Gegensätzen, daß die schlagendsten Tatsachen ihn eben sowenig kümmern wie die wissenschaftlichsten Prinzipien.
Wir vernichten den Widerspruch einfach dadurch, daß wir ihn aufheben. Mit der Verschmelzung der jetzt entgegengesetzten Interessen verschwindet der Gegensatz zwischen Übervölkerung hier und Überreichtum dort, verschwindet das wunderbare Faktum, wunderbarer als alle Wunder aller Religionen zusammen, daß eine Nation vor eitel Reichtum und Überfluß verhungern muß; verschwindet die wahnsinnige Behauptung, daß die Erde nicht die Kraft habe, die Menschen zu ernähren. Diese Behauptung ist die höchste Spitze der christlichen Ökonomie – und daß unsre Ökonomie wesentlich christlich ist, hätte ich bei jedem Satz, bei jeder Kategorie beweisen können und werde es seinerzeit auch tun; die Malthussche Theorie ist nur der ökonomische Ausdruck für das religiöse Dogma von dem Widerspruch des Geistes und der Natur und der daraus folgenden Verdorbenheit beider. Diesen Widerspruch, der für die Religion und mit ihr längst aufgelöst ist, hoffe ich auch auf dem ökonomischen Gebiet in seiner Nichtigkeit aufgewiesen zu haben; ich werde übrigens keine Verteidigung der Malthusschen Theorie für kompetent annehmen, die mir nicht vorher aus ihrem eignen Prinzip heraus erklärt, wie ein Volk von lauter Überfluß verhungern kann, und dies mit der Vernunft und den Tatsachen in Einklang bringt.
Die Malthussche Theorie ist übrigens ein durchaus notwendiger Durchgangspunkt gewesen, der uns unendlich weitergebracht hat. Wir sind durch sie, wie überhaupt durch die Ökonomie, auf die Produktionskraft der Erde und der Menschheit aufmerksam geworden und nach der Überwindung dieser ökonomischen Verzweiflung vor der Furcht der Übervölkerung für immer gesichert. Wir ziehen aus ihr die stärksten ökonomischen Argumente für eine soziale Umgestaltung; denn selbst wenn Malthus durchaus recht hätte, so müßte man diese Umgestaltung auf der Stelle vornehmen, weil nur sie, nur die durch sie zu gebende Bildung der Massen diejenige moralische Beschränkung des Fortpflanzungstriebes möglich macht, die Malthus selbst als das wirksamste und leichteste Gegenmittel gegen Übervölkerung darstellt. Wir haben durch sie die tiefste Erniedrigung der Menschheit, ihre Abhängigkeit vom Konkurrenzverhältnisse kennengelernt; sie hat uns gezeigt, wie in letzter Instanz das Privateigentum den Menschen zu einer Ware gemacht hat, deren Erzeugung und Vernichtung auch nur von der Nachtrage abhängt; wie das[520] System der Konkurrenz dadurch Millionen von Menschen geschlachtet hat und täglich schlachtet; das alles haben wir gesehen, und das alles treibt uns zur Aufhebung dieser Erniedrigung der Menschheit durch die Aufhebung des Privateigentums, der Konkurrenz und der entgegengesetzten Interessen.
Kommen wir indes, um der allgemeinen Übervölkerungsfurcht alle Basis zu nehmen, noch einmal auf das Verhältnis der Produktionskraft zur Bevölkerung zurück. Malthus stellt eine Berechnung auf, worauf er sein ganzes System basiert. Die Bevölkerung vermehre sich in geometrischer Progression: 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 usw., die Produktionskraft des Bodens in arithmetischer: 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6. Die Differenz ist augenscheinlich, ist schreckenerregend; aber ist sie richtig? Wo steht erwiesen, daß die Ertragsfähigkeit des Bodens sich in arithmetischer Progression vermehre? Die Ausdehnung des Bodens ist beschränkt, gut. Die auf diese Fläche zu verwendende Arbeitskraft steigt mit der Bevölkerung; nehmen wir selbst an, daß die Vermehrung des Ertrags durch Vermehrung der Arbeit nicht immer im Verhältnis der Arbeit steigt; so bleibt noch ein drittes Element, das dem Ökonomen freilich nie etwas gilt, die Wissenschaft, und deren Fortschritt ist so unendlich und wenigstens ebenso rasch als der der Bevölkerung. Welchen Fortschritt verdankt die Agrikultur dieses Jahrhunderts allein der Chemie, ja allein zwei Männern – Sir Humphrey Davy und Justus Liebig? Die Wissenschaft aber vermehrt sich mindestens wie die Bevölkerung; diese vermehrt sich im Verhältnis zur Anzahl der letzten Generation; die Wissenschaft schreitet fort im Verhältnis zu der Masse der Erkenntnis, die ihr von der vorhergehenden Generation hinterlassen wurde, also unter den allergewöhnlichsten Verhältnissen auch in geometrischer Progression – und was ist der Wissenschaft unmöglich? Es ist aber lächerlich, von Übervölkerung zu reden, solange »das Tal des Mississippi wüsten Boden genug besitzt, um die ganze Bevölkerung von Europa dorthin verpflanzen zu können«, solange überhaupt erst ein Drittel der Erde für bebaut angesehen werden und die Produktion dieses Drittels selbst durch die Anwendung jetzt schon bekannter Verbesserungen um das Sechsfache und mehr gesteigert werden kann.
Die Konkurrenz setzt also Kapital gegen Kapital, Arbeit gegen Arbeit, Grundbesitz gegen Grundbesitz, und ebenso jedes dieser Elemente gegen die beiden andern. Im Kampf siegt der Stärkere, und wir werden, um das Resultat dieses Kampfes vorauszusagen, die Stärke der Kämpfenden zu untersuchen haben. Zuerst sind Grundbesitzer und Kapital jedes stärker als die Arbeit, denn[521] der Arbeiter muß arbeiten, um zu leben, während der Grundbesitzer von seinen Renten und der Kapitalist von seinen Zinsen, im Notfalle von seinem Kapital oder dem kapitalisierten Grundbesitz leben kann. Die Folge davon ist, daß der Arbeit nur das Allernotdürftigste, die nackten Subsistenzmittel zufallen, während der größte Teil der Produkte sich zwischen dem Kapital und dem Grundbesitz verteilt. Der stärkere Arbeiter treibt ferner den schwächeren, das größere Kapital das geringere, der größere Grundbesitz den kleinen aus dem Markt. Die Praxis bestätigt diesen Schluß. Die Vorteile, die der größere Fabrikant und Kaufmann über den kleinen, der große Grundbesitzer über den Besitzer eines einzigen Morgens hat, sind bekannt. Die Folge hiervon ist, daß schon unter gewöhnlichen Verhältnissen das große Kapital und der große Grundbesitz das kleine Kapital und den kleinen Grundbesitz nach dem Recht des Stärkeren verschlingen – die Zentralisation des Besitzes, in Handels- und Agrikulturkrisen geht diese Zentralisation viel rascher vor sich. – Großer Besitz vermehrt sich überhaupt viel rascher als kleiner, weil von dem Ertrag ein viel geringerer Teil als Ausgaben des Besitzes in Abzug kommt. Diese Zentralisation des Besitzes ist ein dem Privateigentum ebenso immanentes Gesetz wie alle andern; die Mittelklassen müssen immer mehr verschwinden, bis die Welt in Millionäre und Paupers, in große Grundbesitzer und arme Taglöhner geteilt ist.
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