Ich bitte Sie, mir die Summe des christlichen Glaubens zu nennen!«

Mr. Waller setzte sich auf seinem Stuhle zurecht und begann zunächst, vom Sündenfalle zu sprechen. Während dessen brachte der Kellner den Chinesen die Suppe. Fu wies sie mit der kurzen Bemerkung zurück, daß er mit seinem Begleiter später oben im Zimmer speisen würde. Dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem Yankee wieder zu. Er ließ ihn eine lange, lange Zeit sprechen, ohne ihn zu unterbrechen, und erst dann, als sich nach der Verheißung Abrahams eine Pause einstellte, sagte er:

»Ich bat Sie nicht um eine ausführliche Geschichte, sondern um die kurze Summierung Ihres Glaubens!«

»Aber Sie kennen doch unseren Glauben nicht; Sie würden mich also nicht verstehen, wenn ich Ihnen anstatt seiner ganzen Entwicklung nur eine kurze Aphorisme brächte!«

»O bitte! Was deutlich ist, kann vielleicht auch wohl von einem Chinesen begriffen werden. Christus ist der Gründer Ihres Glaubens, und Petrus wurde mir als derjenige Apostel bezeichnet, welchem die größte Macht des Christentums, das Amt der Schlüssel, übergeben wurde; Sie werden also das, was diese Beiden sagen, anerkennen. Christus gibt uns die Summe im Evangelium Johannes, wo er sagt, daß das ganze Gesetz und die Propheten in dem Gebote enthalten seien: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten! Und Petrus befiehlt in seinem ersten Briefe: »Fürchtet Gott; habt die Brüder lieb, und ehret alle Menschen!« Das ist es, was ich von Ihnen hören wollte.«

Es war interessant, jetzt das Gesicht Wallers zu sehen. Das Erstaunen über die unerwartete Belesenheit des Chinesen lag nicht nur in seinen Zügen, sondern auch in seiner ganzen Haltung deutlich ausgedrückt. Er öffnete zwar den Mund, antwortete aber nicht. Fu tat, als ob er diesen Eindruck seiner Worte gar nicht bemerke, und fuhr fort:

»Das war also die Summe Ihres Glaubens nach den Worten Christi und seines obersten Apostels. Die Summe unseres Glaubens aber lautet: »Die wahre Glückseligkeit kommt uns vom Himmel hernieder, und die Menschen sollen sie neidlos und friedlich unter sich verteilen.« Das ist doch genau dasselbe. Ihr Glaube und unser Glaube sind einander also gleich. Wenn ich dem meinigen gehorche, handle ich, wie ein Christ zu handeln hat, und wenn Sie tun, was der Ihrige gebietet, so sind Sie das, was Sie vorhin einen Confucianer genannt haben.«

Diese Art der Auffassung brachte dem Amerikaner die Sprache wieder.

»Bitte sehr!« rief er aus. »Ich, ein Confucianer! Welch eine Logik! Zwar scheint Ihnen unsere Bibel nicht unbekannt zu sein, aber Sie können unmöglich eine Ahnung von den zahllosen Verschiedenheiten haben, welche zwischen Ihrem Glauben und dem christlichen vorhanden sind!«

»Das tut nichts!« lächelte Fu. »Diese Verschiedenheiten müssen vorhanden sein, weil die Menschen verschieden sind. Ihr Christen liegt ja untereinander selbst im Streit! Es kommt nur auf den Ertrag, auf das Ende, auf den Abschluß, auf die Summe an. Wenn zwei Rechnungen genau dieselbe Summe ergeben, so ist das ein Beweis, daß beide richtig sind. Vielleicht sind einzelne Posten anders benannt; einige hier zusammengezogen, dort aber auseinander gehalten worden; die eine ist mit lateinischer Schrift, die andere in chinesischen Zeichen geschrieben; man hat die eine von links nach rechts, die andere aber umgekehrt zu lesen. Das ist Alles, Alles zwar nicht gleichgültig, aber doch nur Nebensache. Die Hauptsache ist, daß die Summen stimmen. Und wenn sie gleich sind, so ist die eine Rechnung genau so viel wie die andere wert, und keiner von Denen, die sie geschrieben haben und dem Himmel präsentieren, darf behaupten, daß die Buchführung des Anderen eine falsche sei. Sie haben gesehen, daß unsere Religionen ganz genau dieselbe Summe ergeben. Daß die einzelnen Posten geschichtliche oder nationale Verschiedenheiten zeigen, gibt der Berechnung Leben und Interesse, und es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Richtigkeit der einen Rechnung gar nicht ohne die Richtigkeit der anderen zu beweisen wäre. Indem Ihr Glaube ganz dieselben Früchte wie der unsere bringt, beweisen Sie uns, daß er auf keinem Irrtume beruht, und wir würden ebenso unhöflich wie unklug handeln, wenn wir behaupteten, daß es für Sie notwendig sei, ihm zu entsagen und sich zu dem unsern zu bekehren.«

Der Missionar war den Worten des Chinesen mit einer Aufmerksamkeit gefolgt, welche sich nach und nach immer mehr in Verwunderung verwandelte. Er hatte nicht für möglich gehalten, daß der Spieß auf eine solche Weise herumgedreht werden könne, und da es ihm an Gedanken und also auch an Worten zu einer Entgegnung fehlte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an seine Tochter:

»Hast du es gehört, Mary? Man ist so höflich und so klug, mich nicht bekehren zu wollen! Diese "Summe" der Religionen kommt mir ungemein verdächtig vor. Man hat darüber nachzudenken!«

»Das können Sie sich ersparen«, bemerkte der Chinese. »Christus sagt im Matthäus zweimal kurz hintereinander: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!" Die Früchte aber ergeben doch die Summe von des Baumes Tätigkeit und Wert. Sie hören, daß ich als Christ zu Ihnen spreche!«

»Aber woher kommt Ihnen denn diese Kenntnis unserer Heiligen Schrift?«

»Aus dem Gehorsam gegen unsere heiligen Schriften, welche es mir zur Pflicht machen, alle Wege kennen zu lernen, die zum Heil führen. Ueberall, wo ein Tempel oder eine Kirche steht, ist ein solcher Weg geöffnet.