Ich fand sie offen und eilte durch
den Gang die Treppe hinauf. Aber wie erstaunt war ich, als ich in dem
Zimmer ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten, und bei der
Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwei nackte Körper auf dem
Tische ausgestreckt sah. Ich zog mich eilig zurück und stieß im
Hinausgehen auf ein paar Totengräber, die mich fragten, was ich suchte.
Ich zog den Degen, um sie mir vom Leibe zu halten, und kam nicht
unbewegt von diesem seltsamen Anblick nach Hause. Ich trank sogleich
drei bis vier Gläser Wein, ein Mittel gegen die pestilenzialischen
Einflüsse, das man in Deutschland sehr bewährt hält, und trat, nachdem
ich ausgeruhet, den andern Tag meine Reise nach Lothringen an.
Alle Mühe, die ich mir nach meiner Rückkunft gegeben, irgend etwas von
dieser Frau zu erfahren, war vergeblich. Ich ging sogar nach dem
Laden der zwei Engel; allein die Mietleute wußten nicht, wer vor ihnen
darin gesessen hatte.
Dieses Abenteuer begegnete mir mit einer Person vom geringen Stande,
aber ich versichere, daß ohne den unangenehmen Ausgang es eins der
reizendsten gewesen wäre, deren ich mich erinnere, und daß ich niemals
ohne Sehnsucht an das schöne Weibchen habe denken können."
Ferdinands Schuld und Wandlung
Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
(1795)
Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daß Kinder sowohl der
Gestalt als dem Geiste nach bald vom Vater, bald von der Mutter
Eigenschaften an sich tragen, und so kommt auch manchmal der Fall vor,
daß ein Kind die Naturen beider Eltern auf eine besondere und
verwundernswürdige Weise verbindet.
Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein
auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beide Eltern, und
ihre Gemütsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er
hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb, den
Augenblick zu genießen, und eine gewisse leidenschaftliche Art, bei
manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der
Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige überlegung, ein Gefühl von
Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft, sich für andere
aufzuopfern. Man sieht hieraus leicht, daß diejenigen, die mit ihm
umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklären, zu der Hypothese ihre
Zuflucht nehmen mußten, daß der junge Mann wohl zwei Seelen haben
möchte.
Ich übergehe mancherlei Szenen, die in seiner Jugend vorfielen, und
erzähle nur eine Begebenheit, die seinen ganzen Charakter ins Licht
setzt und in seinem Leben eine entschiedene Epoche machte.
Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine
Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder, wie es
solchen Leuten geziemt, und wenn der Vater in Gesellschaften, beim
Spiel und durch zierliche Kleidung mehr, als billig war, ausgab, so
wußte die Mutter als eine gute Haushälterin dem gewöhnlichen Aufwande
solche Grenzen zu setzen, daß im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und
niemals ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabei war der Vater
als Handelsmann glücklich; es gerieten ihm manche Spekulationen, die
er sehr kühn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte,
hatte er sich in Geschäften auch vieler Verbindungen und mancher
Beihülfe zu erfreuen.
Die Kinder, als strebende Naturen, wählen sich gewöhnlich im Hause das
Beispiel dessen, der am meisten zu leben und zu genießen scheint. Sie
sehen in einem Vater, der sichs wohl sein läßt, die entschiedene Regel,
wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben, und weil sie schon
früh zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistenteils ihre
Begierden und Wünsche in großer Disproportion der Kräfte ihres Hauses
fort. Sie finden sich bald überall gehindert, um so mehr, als jede
neue Generation neue und frühere Anforderungen macht und die Eltern
den Kindern dagegen meistenteils nur gewähren möchten, was sie selbst
in früherer Zeit genossen, da noch jedermann mäßiger und einfacher zu
leben sich bequemte.
Ferdinand wuchs mit der unangenehmen Empfindung heran, daß ihm oft
dasjenige fehle, was er an seinen Gespielen sah. Er wollte in
Kleidung, in einer gewissen Liberalität des Lebens und Betragens
hinter niemanden zurückbleiben, er wollte seinem Vater ähnlich werden,
dessen Beispiel er täglich vor Augen sah und der ihm doppelt als
Musterbild erschien: einmal als Vater, für den der Sohn gewöhnlich ein
günstiges Vorurteil hegt, und dann wieder, weil der Knabe sah, daß der
Mann auf diesem Wege ein vergnügliches und genußreiches Leben führte
und dabei von jedermann geschätzt und geliebt wurde. Ferdinand hatte
hierüber, wie man sich leicht denken kann, manchen Streit mit der
Mutter, da er dem Vater die abgelegten Röcke nicht nachtragen, sondern
selbst immer in der Mode sein wollte. So wuchs er heran, und seine
Forderungen wuchsen immer vor ihm her, so daß er zuletzt, da er
achtzehn Jahre alt war, ganz außer Verhältnis mit seinem Zustande sich
fühlen mußte.
Schulden hatte er bisher nicht gemacht, denn seine Mutter hatte ihm
davor den größten Abscheu eingeflößt, sein Vertrauen zu erhalten
gesucht und in mehreren Fällen das äußerste getan, um seine Wünsche zu
erfüllen oder ihn aus kleinen Verlegenheiten zu reißen.
Unglücklicherweise mußte sie in eben dem Zeitpunkte, wo er nun als
Jüngling noch mehr aufs äußere sah, wo er durch die Neigung zu einem
sehr schönen Mädchen, verflochten in größere Gesellschaft, sich andern
nicht allein gleichzustellen, sondern vor andern sich hervorzutun und
zu gefallen wünschte, in ihrer Haushaltung gedrängter sein als jemals;
anstatt also seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing sie an,
seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu ihr in Anspruch zu
nehmen, und setzte ihn, indem sie ihn zwar überzeugte, aber nicht
veränderte, wirklich in Verzweiflung.
Er konnte, ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war,
die Verhältnisse nicht verändern, in denen er sich befand. Von der
ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen; er war mit allem,
was ihn umgab, zusammengewachsen; er konnte keine Faser seiner
Verbindungen, Gesellschaften, Spaziergänge und Lustpartien zerreißen,
ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue,
ehrenvolle Bekanntschaft und, was das Schlimmste war, seine Liebe zu
verletzen.
Wie hoch und wert er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn
man erfährt, daß sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste,
seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins
der schönsten, angenehmsten und reichsten Mädchen der Stadt gab ihm,
wenigstens für den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern.
Sie erlaubte ihm, mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu
prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu sein,
die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr überall
zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede
Weise zu zeigen, wie wert ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm
ihr Besitz sei.
Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinanden mehr Aufwand,
als es unter andern Umständen natürlich gewesen wäre. Sie war
eigentlich von ihren abwesenden Eltern einer sehr wunderlichen Tante
anvertraut worden, und es erforderte mancherlei Künste und seltsame
Anstalten, um Ottilien, diese Zierde der Gesellschaft, in Gesellschaft
zu bringen. Ferdinand erschöpfte sich in Erfindungen, um ihr die
Vergnügungen zu verschaffen, die sie so gern genoß und die sie jedem,
der um sie war, zu erhöhen wußte.
Und in eben diesem Augenblicke von einer geliebten und verehrten
Mutter zu ganz andern Pflichten aufgefordert zu werden, von dieser
Seite keine Hülfe zu sehen, einen so lebhaften Abscheu vor Schulden zu
fühlen, die auch seinen Zustand nicht lange würden gefristet haben,
dabei von jedermann für wohlhabend und freigebig angesehen zu werden
und das tägliche und dringende Bedürfnis des Geldes zu empfinden, war
gewiß eine der peinlichsten Lagen, in der sich ein junges, durch
Leidenschaften bewegtes Gemüt befinden kann.
Gewisse Vorstellungen, die ihm früher nur leicht vor der Seele
vorübergingen, hielt er nun fester; gewisse Gedanken, die ihn sonst
nur Augenblicke beunruhigten, schwebten länger vor seinem Geiste, und
gewisse verdrießliche Empfindungen wurden dauernder und bitterer.
Hatte er sonst seinen Vater als sein Muster angesehen, so beneidete er
ihn nun als seinen Nebenbuhler. Von allem, was der Sohn wünschte, war
jener im Besitz; alles, worüber dieser sich ängstigte, ward jenem
leicht. Und es war nicht etwa von dem Notwendigen die Rede, sondern
von dem, was jeder hätte entbehren können. Da glaubte denn der Sohn,
daß der Vater wohl auch manchmal entbehren sollte, um ihn genießen zu
lassen. Der Vater dagegen war ganz anderer Gesinnung; er war von
denen Menschen, die sich viel erlauben und die deswegen in den Fall
kommen, denen, die von ihnen abhängen, viel zu versagen. Er hatte dem
Sohne etwas Gewisses ausgesetzt und verlangte genaue Rechenschaft, ja
eine regelmäßige Rechnung von ihm darüber.
Nichts schärft das Auge des Menschen mehr, als wenn man ihn
einschränkt. Darum sind die Frauen durchaus klüger als die Männer,
und auf niemand sind Untergebene aufmerksamer als auf den, der
befiehlt, ohne zugleich durch sein Beispiel vorauszugehen. So ward
der Sohn auf alle Handlungen seines Vaters aufmerksam, besonders auf
solche, die Geldausgaben betrafen. Er horchte genauer auf, wenn er
hörte, der Vater habe im Spiel verloren oder gewonnen, er beurteilte
ihn strenger, wenn jener sich willkürlich etwas Kostspieliges erlaubte.
"Ist es nicht sonderbar", sagte er zu sich selbst, "daß Eltern,
während sie sich mit Genuß aller Art überfüllen, indem sie bloß nach
Willkür ein Vermögen, das ihnen der Zufall gegeben hat, benutzen, ihre
Kinder gerade zu der Zeit von jedem billigen Genusse ausschließen, da
die Jugend am empfänglichsten dafür ist! Und mit welchem Rechte tun
sie es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall
allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall
wirkt? Lebte der Großvater noch, der seine Enkel wie seine Kinder
hielt, es würde mir viel besser ergehen; er würde es mir nicht am
Notwendigen fehlen lassen; denn ist uns das nicht notwendig, was wir
in Verhältnissen brauchen, zu denen wir erzogen und geboren sind? Der
Großvater würde mich nicht darben lassen, so wenig er des Vaters
Verschwendung zugeben würde. Hätte er länger gelebt, hätte er klar
eingesehen, daß sein Enkel auch wert ist zu genießen, so hätte er
vielleicht in dem Testament mein früheres Glück entschieden. Sogar
habe ich gehört, daß der Großvater eben vom Tode übereilt worden, da
er seinen letzten Willen aufzusetzen gedachte, und so hat vielleicht
bloß der Zufall mir meinen frühern Anteil an einem Vermögen entzogen,
den ich, wenn mein Vater so zu wirtschaften fortfährt, wohl gar auf
immer verlieren kann."
Mit diesen und anderen Sophistereien über Besitz und Recht, über die
Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine
Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und inwiefern es dem
Menschen erlaubt sei, im stillen von den bürgerlichen Gesetzen
abzuweichen, beschäftigte er sich oft in seinen einsamen,
verdrießlichsten Stunden, wenn er irgend aus Mangel des baren Geldes
eine Lustpartie oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen
mußte.
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