Aber er trug doch zur Unterhaltung bei, er war lebhaft, schien gefühlvoll, wohingegen Vater Goriot – um nochmals den Museumsbeamten zu zitieren – stets auf dem Nullpunkt stand.

Eugen von Rastignac war aus den Ferien in einer Geistesverfassung zurückgekehrt, wie sie bedeutenden jungen Leuten oder solchen, denen eine schwierige Lage vorübergehend die Eigenschaften überlegener Männer verlieh, bekannt sein sollte. Im ersten Jahre seines Pariser Aufenthaltes hatte die Erwerbung der untersten Grade in der Fakultät keine große Arbeit von ihm verlangt und ihm reichlich Zeit gelassen, die Freuden der Großstadt zu kosten. Ein Student hat gar viel zu tun, wenn er das Repertoire eines jeden Theaters und alle Irrwege des Pariser Labyrinths kennen und sich an Brauch und Sprache und alle die eigenartigen Freuden der Hauptstadt gewöhnen will. Da gibt es gute und böse Orte zu besuchen und die Reichtümer zahlreicher Museen zu studieren. Man findet Nichtigkeiten erhaben und begeistert sich für sie; man hat seinen Großen, den man bewundert – irgendeinen Professor am Collège de France, der dafür bezahlt wird, daß er sich vor seinem Auditorium auf seiner Höhe behauptet; man rückt an seiner Halsbinde und gibt sich Haltung um der Damen willen, die im Ersten Rang der Opéra-Comique sitzen. Während man so allmählich in das Großstadtleben eingeweiht wird, häutet man sich gründlich, erweitert seinen Horizont und endet damit, die Stufenleiter der verschiedenen Stände wahrzunehmen, aus denen sich die menschliche Gesellschaft zusammensetzt. Hat man anfangs an einem heiteren Tage den Wagenkorso in den Champs-Eylsées bewundert, so kommt man bald dahin, bei diesem Anblick Neid zu fühlen. Als Eugen in die Ferien reiste, nachdem er Bakkalaureus der freien Künste und der Rechte geworden war, hatte auch er diese Lehrzeit hinter sich. Seine Kindheitsträume, seine Provinzanschauungen waren verschwunden. Seine Einsicht, sein Ehrgeiz war geweckt und gewährten ihm einen klaren Einblick in das väterliche Haus und das Familienleben dort. Sein Vater, seine Mutter, seine beiden Brüder, seine beiden Schwestern und eine Tante, deren Vermögen in einer Witwenpension bestand, lebten alle auf dem kleinen Gute Rastignac. Die Besitzung erbrachte jährlich etwa dreitausend Franken, und auch diese Einnahme war nur unsicher, denn sie hing von dem Ertrag der Weingärten ab; dabei mußten jährlich für ihn allein zwölfhundert Franken aufgebracht werden. Der Anblick dieser fortwährenden Not, die Gegenüberstellung seiner Schwestern, die er als Kind so schön gefunden, mit den Frauen von Paris, deren Schönheit seine kühnsten Träume verwirklicht hatte, die unsichere Zukunft seiner ganz auf ihn angewiesenen Familie, die ängstliche Sparsamkeit, mit der die kleinsten Erträgnisse weggeschlossen wurden, das Getränk, das für die Familie nur aus Trebern bereitet wurde, kurz, eine Fülle von Umständen, auf die ich hier nicht näher einzugehen brauche, verzehnfachten sein Verlangen, in die Höhe zu kommen, und erweckten in ihm den Durst nach Erfolg. Gleich allen großen Seelen wollte er aus eigenen Kräften vorwärts kommen. Aber er war ein echter Südfranzose; so würde er wahrscheinlich nie sehr entschlußfähig werden und stets zögern, voller Bedenken, wie sie etwa den jungen Mann befallen, der sich auf offenem Meer befindet und nicht weiß, wohin er steuern und wie er die Segel stellen soll. Wenn er zunächst daran dachte, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen, so fiel ihm doch bald ein, daß er vor allem Verbindungen suchen müsse, und er bemerkte, welch großen Einfluß die Frauen im gesellschaftlichen Leben haben; er faßte also plötzlich den Entschluß, sich in das Gesellschaftsgetriebe zu stürzen, um sich Gönnerinnen zu erobern. Könnte es einem feurigen, geistvollen jungen Manne daran fehlen? Einem jungen Manne, der neben diesen wertvollen Eigenschaften auch eine vornehme Gestalt und kraftvolle Schönheit besaß, der sich die Frauen gern hingeben? Diese Gedanken kamen ihm draußen auf dem Felde, bei den frohen Spaziergängen, die er mit seinen Schwestern, denen er sehr verändert vorkam, zu unternehmen pflegte. Seine Tante, Frau von Marcillac, war in ihren jungen Jahren bei Hofe vorgestellt worden und hatte dort die Spitzen der Aristokratie kennen gelernt. Sogleich erkannte der ehrgeizige junge Mann in den Erinnerungen, die er von seiner Tante so oft hatte anhören müssen, die Grundlage für mehrere Eroberungen, die ihm ebenso wichtig schienen wie die, denen er in den juristischen Hörsälen nachging. Er erkundigte sich bei der Tante nach den verwandtschaftlichen Beziehungen, die vielleicht wieder angeknüpft werden könnten. Nachdem sie die Zweige des Stammbaumes tüchtig geschüttelt hatte, kam die alte Dame zu der Ansicht, daß von der ganzen egoistischen Schar ihrer reichen Verwandten die Frau Vicomtesse von Beauséant wohl am wenigsten abweisend sein dürfte. An diese junge Frau schrieb sie einen Brief und übergab ihn Eugen mit dem Bemerken, daß die Vicomtesse, falls sie sich für ihn interessiere, ihn auch seinen anderen Verwandten zuführen werde. Einige Tage nach seinem Wiedereintreffen in Paris sandte Rastignac den Brief seiner Tante an Frau von Beauséant. Die Vicomtesse erwiderte mit einer Einladung zu einem an einem der nächsten Tage angesetzten Ball.

So also sah es Ende November 1819 in der Familienpension aus. Einige Tage später kehrte Eugen vom Ball der Frau von Beauséant gegen zwei Uhr nachts heim. Um die verlorene Zeit wieder einzubringen, hatte der tapfere Student sich vorgenommen, bis zum Morgen durchzuarbeiten. Das sollte die erste Nacht sein, die er hier im stillen Stadtviertel durchwachte. Er hatte am Abend bereits nicht mehr in der Pension gespeist; seine Hausgenossen konnten also annehmen, daß er erst bei Tagesgrauen heimkehren werde, wie er das einigemal nach den Festen im Prado oder den Bällen im Odéon getan hatte. Bevor Christoph den Riegel vor die Tür schob, hatte er sie noch einmal aufgemacht, um auf die Straße zu sehen. In diesem Augenblick erschien Rastignac und konnte geräuschlos in sein Zimmer hinaufsteigen; ihm folgte Christoph, der um so mehr Lärm machte.