Ich habe sie alle gesehen, als ich die Treppe kehrte. Der Vater Goriot hat mir mit seinem Paket einen Stoß gegeben. Das Ding war hart wie Eisen. Was treibt er eigentlich, der Alte? Sie haben ihn alle zum Narren, die andern; aber er ist trotzdem ein guter Mann, der mehr wert ist als sie alle. Er gibt ja nicht viel, aber die Damen, zu denen er mich manchmal schickt, geben großartige Trinkgelder und sind immer prächtig angezogen.« »Die, die er seine Töchter nennt, was? Es ist ein ganzes Dutzend.« »Ich bin immer nur bei zweien gewesen, bei denselben, die ihn hier besucht haben.« »Da, die Frau rührt sich; sie wird Lärm schlagen. Ich muß hin. Geben Sie acht auf die Milch, Christoph, und auf die Katze!«
»Wie, Sylvia, es ist schon drei Viertel zehn? Du hast mich schlafen lassen wie ein Murmeltier. So etwas ist ja noch gar nicht vorgekommen!« »Das kommt von dem Nebel; man kann ihn mit Messern schneiden.« »Aber das Frühstück?« »Pah! Die Pensionäre haben den Teufel im Leib; sie sind alle schon frühmorgens auf und davon.« »Sprich doch anständig, Sylvia!« erwiderte Frau Vauquer. »Ja, ja, Madame, schon recht. Um zehn Uhr können Sie frühstücken. Die Michonnette und der Poiret haben sich noch nicht gerührt. Das sind die einzigen, die zu Hause sind, und sie schlafen wie die Klötze.« »Aber Sylvia, du tust die beiden zusammen, als ob ...« »Als ob was?« erwiderte Sylvia mit dummem Lachen. »Die beiden geben ein Paar.« »Das ist doch merkwürdig, Sylvia: wie ist denn Herr Vautrin heute nacht hereingekommen? Christoph hatte doch den Riegel schon vorgeschoben?« »Im Gegenteil, Madame. Er hörte Herrn Vautrin kommen und ist hinuntergegangen, um ihm aufzumachen. Und da haben Sie nun gedacht ...« »Gib mir meinen Morgenrock, und geh schnell das Frühstück besorgen! Trage den Rest vom Hammelbraten auf, mit Kartoffeln und Birnenkompott, von den Birnen, die zwei Centimes das Stück kosten.«
Ein paar Minuten später trat Frau Vauquer unten im Speisesaal ein, gerade als die Katze mit geschicktem Pfotenschlag den Deckel von einem Milchtopf heruntergeworfen hatte und eilig die Milch aufleckte.
»Mutzi, Mutzi!« rief die Witwe.
Die Katze entfloh mit einem Satz, kam aber bald zurück und rieb sich an den Beinen der Herrin.
»Ja, ja, mach deinen Buckel, alter Sünder!« sagte sie. »Sylvia! Sylvia!« »Was gibts, Madame?« »Sieh nur, was die Katze gesoffen hat!« »Daran ist dieser dumme Christoph schuld. Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte die Schüsseln zudecken! Welches Näpfchen ist es denn? – Beruhigen Sie sich, Madame, das ist die Milch für Vater Goriots Kaffee. Ich werde ein wenig Wasser zusetzen, er wird es nicht merken. Er gibt auf gar nichts acht, nicht einmal auf das, was er ißt.« »Wohin ist er eigentlich gegangen, der alte Chinese?« fragte Frau Vauquer, die Teller verteilend. »Weiß man das denn? Der hat ja hundert Geschäftchen!« »Ich habe zu lange geschlafen«, sagte Frau Vauquer. »Aber dafür ist Madame auch frisch wie eine Rose ...«
In diesem Augenblick ertönte die Torglocke, und Vautrin trat singend in den Salon:
»Ich hab mich weit umhergetrieben,
Um mir die Weiber zu beschaun ...
Ah, ah! Guten Tag, Mama Vauquer!« sagte er, die Wirtin gewahrend, und küßte ihr galant die Hand. »Nun, nun, hören Sie endlich auf ...« »Sagen Sie: frecher Kerl!« entgegnete er. »Nun, sagen Sie's doch! Wollen Sie's schleunigst sagen! Kommen Sie, ich werde Ihnen den Tisch decken helfen. Ach, ich bin liebenswürdig, nicht wahr?
Tät ich mich heut in Blond verlieben,
So tät ichs morgen schon in Braun.
Ich habe etwas Merkwürdiges gesehen ...« »Was?« fragte die Witwe. »Vater Goriot war um halb neun in der Rue Dauphine beim Goldschmied, der alte Tafelgeschirre und Tressen kauft. Dem hat er für ein hübsches Sümmchen ein silbernes Tablett mit Kanne verkauft. Für einen, der nicht vom Handwerk ist, hatte er die Sachen recht tüchtig in Klumpen gedrückt.« »Ach, wahrhaftig?« »Ja. Ich hatte einen Freund, der ins Ausland reist, zum Postwagen gebracht und kehrte hierher zurück; da habe ich dann auf Vater Goriot gewartet, um ihn weiter zu beobachten. Es ist zum Lachen. Er ging hier ganz nahe in die Rue des Grès und trat dort in das Haus eines bekannten Wucherers namens Gobseck, eines üblen Kerls, der fähig ist, mit den Gebeinen seines Vaters Domino zu spielen; ein Jude, ein Araber, ein Grieche, ein Zigeuner, – ein Mann der nicht leicht einzuschätzen ist und seine Taler auf der Bank hat.« »Was tut denn dieser Vater Goriot?« »Gar nichts«, sagte Vautrin; »er vertut! Er ist ein Dummkopf, der sich aus Liebe zu den Mädchen ruiniert.« »Da kommt er«, sagte Sylvia.
»Christoph,« rief Vater Goriot, »komm, geh mit mir hinauf!« Christoph folgte dem Vater Goriot und kam bald wieder herunter.
»Wohin gehst du?« fragte Frau Vauquer ihren Hausknecht.
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