Es fehlte ihr das, was der Frau zum zweiten Mal Leben schenkt: Schleier und Spitzen – und Liebesbriefe. Ihre Geschichte könnte Stoff für einen ganzen Roman abgeben. Ihr Vater glaubte berechtigte Gründe zu haben, sie nicht anzuerkennen; er weigerte sich, sie bei sich aufzunehmen, bewilligte ihr jährlich nur sechshundert Franken und beabsichtigte, sein ganzes Vermögen seinem Sohne zuzuwenden. Frau Couture, eine entfernte Verwandte der Mutter Viktorines, die seinerzeit in Verzweiflung zu ihr geflüchtet und dort gestorben war, sorgte für die Waise wie für ihr eigenes Kind. Leider besaß die Beamtenwitwe nichts auf der Welt als ihre Witwenschaft und ihre Pension; sie würde das arme junge Mädchen eines Tages ohne Hoffnung und ohne alle Mittel der Gnade der Welt überlassen müssen. Die gute Frau führte Viktorine jeden Sonntag zur Messe und alle vierzehn Tage zur Beichte, um sie wenigstens zur Frömmigkeit zu erziehen. Sie tat recht daran; denn einzig die religiösen Gefühle boten diesem verleugneten Kinde eine Zukunft; dem armen Kinde, das seinen Vater liebte und alle Jahre zu ihm ging, um ihm die Verzeihung der Mutter zu bringen, das aber Jahr für Jahr vor unerbittlich verschlossene Türen kam. Ihr Bruder, ihr einziger Vermittler, hatte sie in vier Jahren nicht ein einziges Mal besucht und sandte ihr keinerlei Unterstützung. Sie flehte Gott an, ihrem Vater die Binde von den Augen zu nehmen, das Herz ihres Bruders zu erweichen; und sie betete für beide, ohne sie anzuklagen. Frau Couture und Frau Vauquer fanden nicht Worte, die stark genug waren, um die rohe Handlungsweise jener Männer zu bezeichnen. Wenn sie den schändlichen Millionär verfluchten, so ließ Viktorine hingegen sanfte Worte vernehmen, gleich der verwundeten Taube, deren Schmerzensschrei noch immer Liebe atmet.

Eugen von Rastignac hatte ganz das Gesicht eines Südländers: einen weißen Teint, schwarzes Haar und blaue Augen. In Wuchs und Manieren, in Haltung und Auftreten erkannte man den Sohn aus adligem Hause, wo schon die erste Erziehung auf Tradition des guten Geschmacks aufgebaut wird. Obgleich er seine Kleider schonen mußte und an gewöhnlichen Tagen die Anzüge vom Vorjahr aufzutragen pflegte, so konnte er doch manchmal in eleganter Kleidung ausgehen. Gewöhnlich trug er einen alten Gehrock, eine schlechte Weste, eine abgenutzte, schlecht gebundene Studentenkrawatte, dementsprechende Beinkleider und geflickte Stiefel.

Zwischen diesen beiden jungen Menschen und den anderen Pensionären bildete Vautrin, der Vierzigjährige mit dem gefärbten Bart, den Übergang. Er war einer jener Leute, von denen es im Volksmunde heißt: ›Ein prächtiger Kerl!‹ Er hatte breite Schultern, eine gewölbte Brust, harte Muskeln und dicke, viereckige, brennend rote Hände, die an jedem Fingerglied ein dickes Haarbüschel aufwiesen. Sein tief gefurchtes Gesicht trug den Stempel der Härte und strafte sein freundliches, schmiegsames Benehmen Lügen. Seine tiefe Stimme, die gut zu seiner plumpen Munterkeit paßte, war nicht unsympathisch. Er war ein Spaßmacher und immer bemüht, sich nützlich zu erweisen. Wollte irgendein Schloß nicht schließen, so hatte er es alsbald abgeschraubt, gereinigt, geölt, gefeilt und wieder angeschraubt, wobei er sagte: »Darauf verstehe ich mich.« Er verstand sich übrigens auf alles: auf Schiffahrt, Meereskunde, Frankreich, das Ausland, auf Geschäfte, Menschen und Ereignisse, auf die Gesetze, die Gasthöfe und die Gefängnisse. Wenn jemand stöhnte und klagte, so fragte er ihn aus und erbot sich, ihm zu helfen. Er hatte Frau Vauquer und einigen anderen Pensionären mehrmals Geld geliehen; aber seine Schuldner wären lieber gestorben, als daß sie diese Schuld nicht so schnell wie möglich wieder abgetragen hätten, so sehr flößte sein durchdringender und entschlossener Blick den Leuten Angst ein. Durch die Art, wie er ausspuckte, bewies er eine unerschütterliche Kaltblütigkeit, die zeigte, daß er selbst ein Verbrechen wagen würde, wenn es gälte, aus einer mißlichen Lage herauszukommen. Wie ein strenger Richter ging sein Auge allen Dingen auf den Grund, allen Fragen, allen Gewissen, allen Empfindungen. Er pflegte nach dem Frühstück auszugehen, zum Mittagessen heimzukommen und den Abend wieder draußen zu verbringen; erst gegen Mitternacht kam er zurück und verschaffte sich mit Hilfe eines Hausschlüssels Eingang, den Frau Vauquer ihm anvertraut hatte. Er allein genoß diesen Vorzug. Aber er stand sich auch am besten mit der Witwe, die er um die Taille faßte und ›Mama‹ nannte, eine Schmeichelei, die sie gar nicht zu würdigen wußte; denn die gute Frau hielt dies offenbar noch für leicht, wohingegen Vautrin der einzige war, dessen Arme lang genug waren, um den gewaltigen Umfang dieser Frau zu umspannen. Ein großmütiger Zug von ihm war es, fünfzehn Franken im Monat für den Gloria1 zu bezahlen, den er beim Nachtisch einzunehmen pflegte. Weniger oberflächliche Leute als diese vom Strudel des Pariser Lebens mitgerissenen jungen Männer und diese gegen alles, was sie nicht schmerzte, gleichgültigen Greise hätten sich über den zweifelhaften Charakter Vautrins ihre Gedanken gemacht. Er kannte oder erriet alles, was seine Umgebung betraf, er wußte ihrer aller Geschichte, während sie weder von seinem Denken noch von seinem Tun eine Ahnung hatten. Obgleich er seine anscheinende Gutmütigkeit, seine beständige Liebenswürdigkeit und Heiterkeit wie eine Schutzwehr zwischen sich und den anderen aufgerichtet hatte, ließ er doch oft den fürchterlichen Abgrund in seinem Charakter ahnen.