Pastor Seidentopf hatte keinen besseren Zuhörer als den Patron seiner Kirche, der – und nicht heute bloß – die freundlich schöne Kunst des Ergänzens zu üben verstand. Aus der Skizze schuf er ein Bild und glaubte doch, dies Bild von außen her, aus der Hand seines Freundes empfangen zu haben.

Nun war der Sand durch die Uhr gelaufen, die Predigt selbst geschlossen. Da trat der Pastor noch einmal an den Rand der Kanzel, und mit

eindringlicher Stimme, der sofort alle Herzen wieder zufielen, hob er an: »Mit Christi Geburt, die wir heute feiern, beginnt das christliche neue Jahr. Ein neues Jahr; was wird es uns bringen? Es wissen zu wollen, wäre Torheit; aber zu hoffen ist unserem Herzen erlaubt. Gott hat ein Zeichen gegeben; mögen wir es zum Rechten deuten, wenn wir es deuten: er will uns wieder aufrichten, unsere Buße ist angenommen, unsere Gebete sind erhört. Die Geißel, die nach seinem Willen sechs lange Jahre über uns war, er hat sie zerbrochen; er hat sich unserer Knechtschaft erbarmt, und die Weihnachtssonne, die uns

umscheint, sie will uns verkündigen, daß wieder hellere Tage unserer harren. Ob sie kommen werden mit Palmen, oder ob sie kommen werden mit

Schwerterklang, wer sagt es? Wohl mischt sich ein

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Bangen in unsere Hoffnung, daß der Sieg nicht einziehen wird ohne letzte Opfer an Gut und Blut. Und so laßt uns denn beten, meine Freunde, und die Gnade des Herrn noch einmal anrufen, daß er uns die rechte Kraft leihen möge in der Stunde der Entscheidung. Das Wort des Judas Makkabäus sei unser Wort: ›Das sei ferne, daß wir fliehen sollten. Ist unsere Zeit kommen, so wollen wir ritterlich sterben um unserer Brüder willen und unsere Ehre nicht lassen zuschanden werden.‹ Gott will kein

Weltenvolk, Gott will keinen Babelturm, der in den Himmel ragt, und wir stehen ein für seine ewigen Ordnungen, wenn wir einstehen für uns selbst. Unser Herd, unser Land sind Heiligtümer nach dem Willen Gottes. Und seine Treue wird uns nicht lassen, wenn wir getreu sind bis in den Tod. Handeln wir, wenn die Stunde da ist, aber bis dahin harren wir in Geduld.«

Er neigte sich jetzt, um in Stille das Vaterunser zu sprechen; die Orgel fiel mit feierlichen Klängen ein; die Gemeinde, sichtlich erbaut durch die

Schlußworte, verließ langsam die Kirche. Auf den verschiedenen Schlängelwegen, die von der Kirche ins Dorf herniederführten, schritten die Bauern und Halbbauern ihren halbverschneiten Höfen zu. Die Frauen und Mädchen folgten. Wer von der

Dorfstraße aus diesem Herabsteigen zusah, dem erschloß sich ein anmutiges Bild: der Schnee, die wendischen Trachten und die funkelnde Sonne darüber.

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Die Gutsherrschaft nahm wieder ihren Weg durch die Nußbaumallee. Als sie, einbiegend, an die Hoftür kamen, stand Krist an der untersten Steinstufe und zog seinen Hut. Die silberne Borte daran war längst schwarz, die Kokarde verbogen. Berndt, als er seines Kutschers ansichtig wurde, trat an ihn heran und sagte kurz:

»Fünf Uhr vorfahren! Den kleinen Wagen.«

»Die Braunen, gnädiger Herr?«

»Nein, die Ponys.«

»Zu Befehl!« Mit diesen Worten traten unsere Freunde ins Haus zurück.

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Sechstes Kapitel

Am Kamin

Punkt fünf Uhr war Krist vorgefahren; Berndt liebte nicht zu warten. Von den Kindern hatte er kurzen Abschied genommen, um seiner Schwester auf Schloß Guse oder der »Tante Amelie«, wie sie im Hohen-Vietzer Hause hieß, einen nachbarlichen Besuch zu machen. Daß er noch am selben Abend zurückkehren werde, war nicht anzunehmen; er hatte vielmehr angedeutet, daß aus der kurzen Ausfahrt eine Reise nach der Hauptstadt werden könne. Die Unruhe seiner Empfindung trieb ihn hinaus. Den Weihnachtsaufbau, wie seit Jahren, hatte er sich auch heute nicht nehmen lassen wollen, aber kaum frei, im Gefühl erfüllter Pflicht, schlugen seine Gedanken die alte Richtung ein. Es drängte ihn nach Aktion oder doch nach Einblick in die Welthändel; ein Bedürfnis, das ihm die Enge seines Hauses nicht befriedigen konnte. In der Unterhaltung, das hatte Lewin bei Tisch empfunden, tat er sich Zwang an, und das Gefühl davon nahm auch dem Gespräch der Kinder jede freie Bewegung. Eine gewisse

Befangenheit griff Platz. So kam es, daß man die Abwesenheit des Vaters, bei aufrichtigster Liebe zu ihm, fast wie eine Befreiung empfand; Herz und Zunge konnten ihren Weg gehen, wie sie wollten.