Meine innigste Überzeugung ist, daß die neuere Schule im Ganzen und Großen recht hat und folglich endlich behält – daß die Zeit die Gegner selber so lange verändern wird, bis sie die fremde Veränderung für Bekehrung halten – und daß die neue polarische Morgenröte nach der längsten Nacht, obwohl einen Frühling lang ohne Phöbus oder mit einem halben8 täglich erscheinend, doch nur einer steigenden Sonne vortrete. Ebenso ist seit der Thomas-Sonnen-Wende von und in Kant endlich die Philosophie so viele winterliche Zeichen vom dialektischen Steinbock an bis durch die kritischen Wassermänner und kalten Fische durchlaufen, daß sie jetzo wirklich unter den Frühlingszeichen den Widder und Stier hinter sich hat, wenn man zwei bekannte Häupter hinter dem Oberhaupt Kant so nennen will, welche sich gegenseitig Lehrer, Nachahmer, Freunde und Widerleger geworden – und in das Zeichen der Zwillinge, der Vermählung der Religion und Philosophie, aufsteigt. Früher stand Jacobi einsam da und voraus; jetzo schlingt der Deutsche immer vielfacher um Philosophie und Religion ein Band, und Clodius, der Verfasser der allgemeinen Religionslehre, ist nicht der letzte; die Poesie feiert diese Vermählung mit ihrem großen Hochzeitgedicht auf das All.
Was übrigens gleichwohl wider die Poetiker zu sagen ist nun, die zweite Vorlesung hats ihnen schon in der Ostermesse gesagt. Denn es ist wohl klar, daß sie jetzo – weil jede Verdauung (sogar die der Zeit) ein Fieber ist – umgekehrt jedes Fieber für eine Verdauung (nämlich keiner bloßen Krankheitmaterie, sondern eines Eßmittels) ansehen. –
Wenn Bayle strenge, aber mit Recht das historische Ideal mit den Worten: »la perfection d'une histoire est d'être desagréable à toutes les sectes« aufstellt: so glaubt' ich, daß dieses Ideal auch der literarischen Geschichte vorzuschweben habe; wenigstens hab' ich darnach gerungen, keiner Partei weniger zu mißfallen als der andern. Möchten doch die Parteien, die ich eben darum angefallen, unparteiisch entscheiden (es ist mein Lohn), ob ich das Ziel der Vollkommenheit errungen, das Bayle begehrt.
Möge diese Vorschule nicht in eine Kampf- oder Trivialschule führen, sondern etwa in eine Spinn-, ja in eine Samenschule, weil in beiden etwas wächst.
Baireuth, den 12. August 1804.
Jean Paul Fr. Richter
I. Programm
Über die Poesie überhaupt
§ 1
Ihre Definitionen
Man kann eigentlich nichts real definieren als eine Definition selber; und eine falsche würde in diesem Falle so viel vom Gegenstande als eine wahre lehren. Das Wesen der dichterischen Darstellung ist wie alles Leben nur durch eine zweite darzustellen; mit Farben kann man nicht das Licht abmalen, das sie selber erst entstehen lässet. Sogar bloße Gleichnisse können oft mehr als Worterklärungen aussagen, z.B.: »die Poesie ist die einzige zweite Welt in der hiesigen; – oder: wie Singen zum Reden, so verhält sich Poesie zur Prose; die Singstimme steht (nach Haller) in ihrer größten Tiefe doch höher als der höchste Sprechton; und wie der Sington schon für sich allein Musik ist, noch ohne Takt, ohne melodische Folge und ohne harmonische Verstärkung, so gibt es Poesie schon ohne Metrum, ohne dramatische oder epische Reihe, ohne lyrische Gewalt.« Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen – – nur aber für jeden anders; denn nichts bringt die Eigentümlichkeit der Menschen mehr zur Sprache als die Wirkung, welche die Dichtkunst auf sie macht; und daher werden ihrer Definitionen ebenso viele sein als ihrer Leser und Zuhörer.
Nur der Geist eines ganzen Buchs – der Himmel schenk' ihn diesem – kann die rechte enthalten. Will man aber eine wörtliche kurze: so ist die alte aristotelische, welche das Wesen der Poesie in einer schönen (geistigen) Nachahmung der Natur bestehen lässet, darum verneinend die beste, weil sie zwei Extreme ausschließet, nämlich den poetischen Nihilismus und den Materialismus. Bejahend aber wird sie erst durch nähere Bestimmung, was eine schöne oder geistige Nachahmung eigentlich sei.
§ 2
Poetische Nihilisten
Es folgt aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes – der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren, und welcher den Verband seiner Wunden als eine Fessel abreißet –, daß er von der Nachahmung und dem Studium der Natur verächtlich sprechen muß. Denn wenn allmählich die Zeitgeschichte einem Geschichtschreiber gleich wird und ohne Religion und Vaterland ist: so muß die Willkür der Ichsucht sich zuletzt auch an die harten, scharfen Gebote der Wirklichkeit stoßen und daher lieber in die Öde der Phantasterei verfliegen, wo sie keine Gesetze zu befolgen findet als eigne, engere, kleinere, die des Reim- und Assonanzen-Baues. Wo einer Zeit Gott, wie die Sonne, untergehet; da tritt bald darauf auch die Welt in das Dunkel; der Verächter des All achtet nichts weiter als sich und fürchtet sich in der Nacht vor nichts weiter als vor seinen Geschöpfen. Spricht man denn nicht jetzo von der Natur, als wäre diese Schöpfung eines Schöpfers worin ihr Maler selber nur ein Farbenkorn ist – kaum zum Bildnagel, zum Rahmen der schmalen gemalten eines Geschöpfes tauglich; als wäre nicht das Größte gerade wirklich, das Unendliche? Ist nicht die Geschichte das höchste Trauer- und Lustspiel? Wenn uns der Verächter der Wirklichkeit nur zuerst die Sternenhimmel, die Sonnenuntergänge, die Wasserfalle, die Gletscherhöhen, die Charaktere eines Christus, Epaminondas, der Katos vor die Seele bringen wollten, sogar mit den Zufälligkeiten der Kleinheit, welche uns die Wirklichkeit verwirren, wie der große Dichter die seinige durch kecke Nebenzüge; dann hätten sie ja das Gedicht der Gedichte gegeben und Gott wiederholt. Das All ist das höchste, kühnste Wort der Sprache, und der seltenste Gedanke: denn die meisten schauen im Universum nur den Marktplatz ihres engen Lebens an, in der Geschichte der Ewigkeit nur ihre eigene Stadtgeschichte.
Wer hat mehr die Wirklichkeit bis in ihre tiefsten Täler und bis auf das Würmchen darin verfolgt und beleuchtet als das Zwillingsgestirn der Poesie, Homer und Shakespeare? Wie die bildende und zeichnende Kunst ewig in der Schule der Natur arbeitet: so waren die reichsten Dichter von jeher die anhänglichsten, fleißigsten Kinder, um das Bildnis der Mutter Natur andern Kindern mit neuen Ähnlichkeiten zu übergeben. Will man sich einen größten Dichter denken, so vergönne man einem Genius die Seelenwanderung durch alle Völker und alle Zeiten und Zustände und lasse ihn alle Küsten der Welt umschiffen: welche höhere, kühnere Zeichnungen ihrer unendlichen Gestalt würd' er entwerfen und mitbringen! Die Dichter der Alten waren früher Geschäftmänner und Krieger als Sänger; und besonders mußten sich die großen Epopöen-Dichter aller Zeiten mit dem Steuerruder in den Wellen des Lebens erst kräftig üben, ehe sie den Pinsel, der die Fahrt abzeichnet, in die Hände bekamen.9 So Camoens, Dante, Milton etc.; und nur Klopstock macht eine Ausnahme, aber fast mehr für als wider die Regel. Wie wurden nicht Shakespeare und noch mehr Cervantes vom Leben durchwühlt und gepflügt und gefurcht, bevor in beiden der Blumensame ihrer poetischen Flora durchbrach und aufwuchs! Die erste Dichterschule, worein Goethe geschickt wurde, war nach seiner Lebenbeschreibung aus Handwerkerstuben, Malerzimmern, Krönungsälen, Reicharchiven und aus ganz Meß-Frankfurt zusammengebauet. So bringt Novalis – ein Seiten- und Wahlverwandter der poetischen Nihilisten, wenigstens deren Lehenvetter – uns in seinem Romane gerade dann eine gediegenste Gestalt zu Tage, wenn er uns den Bergmann aus Böhmen schildert, eben weil er selber einer gewesen.
Bei gleichen Anlagen wird sogar der unterwürfige Nachschreiber der Natur uns mehr geben (und wären es Gemälde in Anfangbuchstaben) als der regellose Maler, der den Äther in den Äther mit Äther malt. Das Genie unterscheidet sich eben dadurch daß es die Natur reicher und vollständiger sieht, so wie der Mensch vom halbblinden und halbtauben Tiere; mit jedem Genie wird uns eine neue Natur erschaffen, indem es die alte weiter enthüllet. Alle dichterische Darstellungen, welche eine Zeit nach der andern bewundert, zeichnen sich durch neue sinnliche Individualität und Auffassung aus. Jede Sternen-, Pflanzen-, Landschaft- und andere Kunde der Wirklichkeit ist einem Dichter mit Vorteil anzusehen, und in Goethens gedichteten Landschaften widerscheinen seine gemalten. So ist dem reinen durchsichtigen Glase des Dichters die Unterlage des dunkeln Lebens notwendig, und dann spiegelt er die Welt ab. Es geht hier mit den geistigen Kindern, wie nach der Meinung der alten Römer mit den leiblichen, welche man die Erde berühren ließ, damit sie reden lernten.
Jünglinge finden ihrer Lage gemäß in der Nachahmung der Natur eine mißliche Aufgabe. Sobald das Studium der Natur noch nicht allseitig ist, so wird man von den einzelnen Teilen einseitig beherrscht. Allerdings ahmen sie der Natur nach, aber einem Stücke, nicht der ganzen, nicht deren freiem Geiste mit einem freien Geist. – Die Neuheit ihrer Empfindungen muß ihnen als eine Neuheit der Gegenstände vorkommen; und durch die erstern glauben sie die letzten zu geben. Daher werfen sie sich entweder ins Unbekannte und Unbenannte, in fremde Länder und Zeiten ohne Individualität, nach Griechenland und Morgenland10, oder vorzüglich auf das Lyrische; denn in diesem ist keine Natur nachzuahmen als die mitgebrachte; worin ein Farbenklecks schon sich selber zeichnet und umreißet. Bei Individuen, wie bei Völkern, ist daher Abfärben früher als Abzeichnen, Bilderschrift eher als Buchstabenschrift.
1 comment