Allein das ist eben der prosaische und poetische Unterschied oder die Frage, welche Seele die Natur beseele, ob ein Sklavenkapitän oder ein Homer.

In Rücksicht der nachzuahmenden Form stehen die poetischen Materialisten im ewigen Widerspruch mit sich und der Kunst und der Natur; und bloß, weil sie halb nicht wissen, was sie haben wollen, wissen sie folglich halb, was sie wollen. Denn sie erlauben wirklich den Versfuß auch in größter und jeder Leidenschaft (was allein schon wieder ein Prinzip für das Nachahm-Prinzip festsetzt) – und im Sturme des Affekts höchsten Wohllaut und einigen starken Bilderglanz der Sprache (wie stark aber, kommt auf Willkür der Rezension an) – ferner die Verkürzungen der Zeiten (doch mit Vorbehalt gewisser, d.h. ungewisser Rücksicht auf nachzuahmende Natur) – dann die Götter und Wunder des Epos und der Oper – die heidnische Götterlehre mitten in der jetzigen Götterdämmerung14 – im Homer die langen Mordpredigten der Helden vor dem Morde – im Komischen die Parodie, obgleich bis zum Unsinn – in Don Quixote einen romantischen Wahnsinn, der unmöglich ist – in Sterne das kecke Eingreifen der Gegenwart in seine Selbstgespräche – in Thümmel und andern den Eintritt von Oden ins Gespräch und noch das übrige Zahllose. Aber ist es dann nicht ebenso schreiend – als mitten ins Singen zu reden –, gleichwohl in solche poetische Freiheiten die prosaische Leibeigenschaft der bloßen Nachahmung einzuführen und gleichsam im Universum Fruchtsperre und Warenverbote auszuschreiben? Ich meine, widerspricht man denn nicht sich und eignen Erlaubnissen und dem Schönen, wenn man dennoch in dieses sonnentrunkne Wunder-Reich, worin Göttergestalten aufrecht und selig gehen, über welches keine schwere Erden-Sonne scheint, wo leichtere Zeiten fliegen und andere Sprachen herrschen, wo es, wie hinter dem Leben, keinen rechten Schmerz mehr gibt, wenn in diese verklärte Welt die Wilden der Leidenschaft aussteigen sollten, mit dem rohen Schrei des Jubels und der Qual, wenn jede Blume darin so langsam und unter so vielem Grase wachsen müßte als auf der trägen Welt, wenn die Eisen-Räder und Eisen-Achse der schweren Geschicht und Säkular-Uhr, statt der himmlischen Blumen-Uhr15, die nur auf- und zuquillt und immer duftet, die Zeit länger mäße anstatt kürzer?

Denn wie das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet und beherrschet und knüpft, so übt die poetische Welt dieselbe Kraft an der wirklichen und das Geisterreich am Körperreich. Daher wundert uns in der Poesie nicht ein Wunder, sondern es gibt da keines, ausgenommen die Gemeinheit. Daher ist – bei gleichgesetzter Vortrefflichkeit – die poetische Stimmung auf derselben Höhe, ob sie ein echtes Lustspiel oder ein echtes Trauerspiel, sogar dieses mit romantischen Wundern auftut; und Wallensteins Träume geben dichterisch in nichts den Visionen der Jungfrau von Orleans nach. Daher darf nie der höchste Schmerz, nie der höchste Himmel des Affekts sich so auf der Bühne äußern wie etwan in der ersten besten Loge, nämlich nie so einsilbig und arm. Ich meine dies: immer lassen die französischen und häufig die deutschen Tragiker die Windstöße der Affekten kommen und entweder sagen: o ciel, oder mon dieu, oder o dieux, oder hélas, oder gar nichts, oder, was dasselbe ist, eine Ohnmacht fällt ein. Aber ganz unpoetisch! Der Natur und Wahrheit gemäßer ist gewiß nichts als eben diese einsilbige Ohnmacht. Nur wäre auf diese Weise nichts lustiger zu malen als gerade das Schwerste; und der Abgrund und der Gipfel des Innersten ließen sich viel heller und leichter aufdecken als die Stufen dazu.

Allein da die Poesie gerade an die einsame Seele, die wie ein geborstenes Herz sich in dunkles Blut verbirgt, näher dringen und das leise Wort vernehmen kann, womit jede ihr unendliches Weh ausspricht oder ihr Wohl: so sei sie ein Shakespeare und bringe uns das Wort. Die eigne Stimme, welche der Mensch selber im Brausen der Leidenschaft betäubt verhört, entwische der Poesie so wenig als einer höchsten Gottheit der stummste Seufzer. Gibt es denn nicht Nachrichten, welche uns nur auf Dichter-Flügeln kommen können; gibt es nicht eine Natur, welche nur dann ist, wenn der Mensch nicht ist, und die er antizipiert? Wenn z.B. der Sterbende schon in jene finstere Wüste allein hingelegt ist, um welche die Lebendigen ferne, am Horizont, wie tiefe Wölkchen, wie eingesunkne Lichter stehen, und er in der Wüste einsam lebt und stirbt: dann erfahren wir nichts von seinen letzten Gedanken und Erscheinungen – – Aber die Poesie zieht wie ein weißer Strahl in die tiefe Wüste, und wir sehen in die letzte Stunde des Einsamen hinein.

 

§ 4

 

Nähere Bestimmung der schönen Nachahmung der Natur

In dieser Ansicht liegt zugleich die Bestimmung, was schöne (geistige) Nachahmung der Natur sei. Mit einer trockenen Sacherklärung der Schönheit reicht man nicht weit. Die Kantische: »das sei schön, was allgemein ohne Begriff gefalle« legt in das »Gefallen«, das sie vom Angenehmsein absondert, schon das hinein, was eben zu erklären war. Der Beisatz »ohne Begriff« gilt für alle Empfindungen, so wie auf den andern »allgemein«, den noch dazu die Erfahrung oft ausstreicht, ebenfalls alle Empfindungen, ja alle geistige Zustände heimlich Anspruch machen. Kant, welcher eigensinnig genug nur der Zeichnung Schönheit, der Farbe16 aber bloß Reiz zugestand, nimmt seine Erläuterungen dazu immer aus den zeichnenden und bildenden Künsten hervor. Was ist denn poetische Schönheit, durch welche selber eine gemalte oder gebildete höher aufglänzen kann? Die angenommne Kluft zwischen Natur-Schönheit und zwischen Kunst-Schönheit gilt in ihrer ganzen Breite nur für die dichterische; aber Schönheiten der bildenden Künste könnten allerdings zuweilen schon von der Natur geschaffen werden, wenn auch nur so selten als die genialen Schöpfer derselben selber. Übrigens gehört einer Poetik darum die Erklärung der Schönheit schwerlich voran, weil diese Göttin in der Dichtkunst ja auch andere Götter neben sich hat, das Erhabene, das Rührende, das Komische etc. Ein Revisor der Ästhetik17 macht eine öde leere Definition des Schönen von Delbrück18 mit Vergnügen zur seinigen (für Delbrück eine mäßige Schmeichelei, welcher als ein zarter scharfer Kunstliebhaber und Kunstrichter, z.B. Klopstocks und Goethens, zu ehren ist), und diese Definition lautet wörtlich (außerhalb meiner Einklammerungen) so: »Das Schöne besteht in einer zweckmäßigen, zusammenstimmenden Mannigfaltigkeit von Ideen (setzen hier nicht beide Beiwörter gerade das voraus, was zu erklären ist, gleichsam als ob man sagte: eine zur Schönheit zusammenstimmende Mannigfaltigkeit?), welche die Phantasie in sich hervorruft (wie unbestimmt! und womit und woraus?), um zu einem gegebnen Begriff (zu welchem? oder zu jedem?) viel Unnennbares (warum gerade viel? – Unnennbares wäre genug; ferner welches Unnennbare?) hinzuzudenken, mehr als auf der einen Seite darin angeschaut, und auf der andern Seite darin deutlich gedacht werden kann (deutlich? In dem Unnennbaren liegt ja schon das Nichtdeutliche. Aber was ist denn dies für ein Mehr, das weder zu schauen, noch deutlich zu denken ist? Und welche Grenze hat dieses relative Mehr?); – das Wohlgefallen an demselben wird hervorgebracht durch ein freies und doch regelmäßiges Spiel der Phantasie in Einstimmung mit dem Verstande (Letztes lag schon in ›regelmäßig‹; aber wie wenig ist ›Spiel‹ und bloße ›Einstimmung‹ charakteristisch!).«- Der Revisor der Ergänzblätter knüpft dieser Definition seine kürzere an: »Die schöne Kunst entspringt als schöne Kunst aus einer Vorstellungart durch ästhetische Ideen.« Da in »ästhetisch« das ganze Definitium (die Schönheit) schon fertig liegt: so ist der Definition, so wie jedem identischen Satze, eine gewisse Wahrheit nicht zu nehmen.

Nur noch eine werde beschauet; denn wer wollte seine Schreib- und Leszeit an Prüfungen alles Gedruckten verschwenden? Schönheit, sagt Hemsterhuis, ist, was größte Ideenzahl in kleinster Zeit gewährt; eine Erklärung, welche an die ältere: »sinnliche Einheit im Mannigfaltigen« und an die spätere: »freies Spiel der Phantasie« angrenzt. Die Frage falle weg, wie überhaupt Ideen nach der Zeit zu messen sind, da jene diese selber erst messen. Aber überhaupt ist jede Idee nur ein Terzien-Blitz; sie festhalten heißt sie auseinanderlegen, also in ihre Teile, Grenzen, Folgen, und heißt mithin eben nicht mehr sie festhalten, sondern ihre Sippschaft und Nachbarschaft durchlaufen. Außerdem müßte die Ideenfülle im kürzesten Zeitraum, welche z.B. auch der Überblick eingelernter mathematischer oder philosophischer Kettenrechnungen gewährt, durch ein absonderndes Abzeichen erst der Schönheit zubeschieden werden – und endlich, wenn nun jemand definierte: Häßlichkeit ist, was größte Ideenzahl in kleinster Zeit darreicht? Denn ein Oval stillt und füllt mein Auge, aber ein Linien-Zerrstück bereichert es mit betäubender Mannigfaltigkeit von an- und wegfliegenden Ideen, weil der Gegenstand zugleich soll begriffen, bestritten, geflohen und gelöset werden. Man könnte Hemsterhuis' Definition vielleicht so ausdrücken, Schönheit sei, wie es einen Zirkel der Logik gibt, der Zirkel der Phantasie, weil der Kreis die reichste, einfachste, unerschöpflichste, leichtfaßlichste Figur ist; aber der wirkliche Zirkel ist ja selber eine Schönheit, und so würde die Definition (wie leider jede) ein logischer. –

Wir kommen zum Grundsatze der poetischen Nachahmung zurück. Wenn in dieser das Abbild mehr als das Urbild enthält, ja sogar das Widerspiel gewährt – z.B. ein gedichtetes Leiden Lust –: so entsteht dies, weil eine doppelte Natur zugleich nachgeahmt wird, die äußere und die innere, beide ihre Wechselspiegel.