Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen und der
Parteilichkeit des Direktors, von der veränderlichen Laune des
Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär,
der in Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt
und geprügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und
Pöbel zu tanzen."
Wilhelm dachte allerlei bei sich selbst, was er jedoch dem guten
Menschen nicht ins Gesicht sagen wollte. Er ging also nur von ferne
mit dem Gespräch um ihn herum. Jener ließ sich desto aufrichtiger und
weitläufiger heraus.—"Täte es nicht not", sagte er, "daß ein Direktor
jedem Stadtrate zu Füßen fiele, um nur die Erlaubnis zu haben, vier
Wochen zwischen der Messe ein paar Groschen mehr an einem Orte
zirkulieren zu lassen. Ich habe den unsrigen, der soweit ein guter
Mann war, oft bedauert, wenn er mir gleich zu anderer Zeit Ursache zu
Mißvergnügen gab. Ein guter Akteur steigert ihn, die schlechten kann
er nicht loswerden; und wenn er seine Einnahme einigermaßen der
Ausgabe gleichsetzen will, so ist es dem Publikum gleich zuviel, das
Haus steht leer, und man muß, um nur nicht gar zugrunde zu gehen, mit
Schaden und Kummer spielen. Nein, mein Herr! da Sie sich unsrer, wie
Sie sagen, annehmen mögen, so bitte ich Sie, sprechen Sie auf das
ernstlichste mit den Eltern meiner Geliebten! Man versorge mich hier,
man gebe mir einen kleinen Schreiber- oder Einnehmerdienst, und ich
will mich glücklich schätzen."
Nachdem sie noch einige Worte gewechselt hatten, schied Wilhelm mit
dem Versprechen, morgen ganz früh die Eltern anzugehen und zu sehen,
was er ausrichten könne. Kaum war er allein, so mußte er sich in
folgenden Ausrufungen Luft machen: "Unglücklicher Melina, nicht in
deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht
Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf
ein Handwerk, eine Kunst oder irgendeine Lebensart ergriffe, müßte
nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden? Wer mit einem
Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein
schönstes Dasein! Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit! Nur
der innere Trieb, die Lust, die Liebe helfen uns Hindernisse
überwinden, Wege bahnen und uns aus dem engen Kreise, worin sich
andere kümmerlich abängstigen, emporheben. Dir sind die Bretter
nichts als Bretter, und die Rollen, was einem Schulknaben sein Pensum
ist. Die Zuschauer siehst du an, wie sie sich selbst an Werkeltagen
vorkommen. Dir könnte es also freilich einerlei sein, hinter einem
Pult über linierten Büchern zu sitzen, Zinsen einzutragen und Reste
herauszustochern. Du fühlst nicht das zusammenbrennende,
zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist erfunden,
begriffen und ausgeführt wird; du fühlst nicht, daß in den Menschen
ein besserer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er
nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und
Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch so spät und fast nie erstickt
wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft, ihn aufzublasen, in
deinem eignen Herzen keinen Reichtum, um dem Erweckten Nahrung zu
geben. Der Hunger treibt dich, die Unbequemlichkeiten sind dir
zuwider, und es ist dir verborgen, daß in jedem Stande diese Feinde
lauern, die nur mit Freudigkeit und Gleichmut zu überwinden sind. Du
tust wohl, dich in jene Grenzen einer gemeinen Stelle zu sehnen; denn
welche würdest du wohl ausfüllen, die Geist und Mut verlangt! Gib
einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geistlichen deine Gesinnungen,
und mit ebensoviel Recht wird er sich über das Kümmerliche seines
Standes beschweren können. Ja, hat es nicht sogar Menschen gegeben,
die von allem Lebensgefühl so ganz verlassen waren, daß sie das ganze
Leben und Wesen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles
und staubgleiches Dasein erklärt haben? Regten sich lebendig in
deiner Seele die Gestalten wirkender Menschen, wärmte deine Brust ein
teilnehmendes Feuer, verbreitete sich über deine ganze Gestalt die
Stimmung, die aus dem Innersten kommt, wären die Töne deiner Kehle,
die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören, fühltest du dich genug in
dir selbst, so würdest du dir gewiß Ort und Gelegenheit aufsuchen,
dich in andern fühlen zu können."
Unter solchen Worten und Gedanken hatte sich unser Freund ausgekleidet
und stieg mit einem Gefühle des innigsten Behagens zu Bette. Ein
ganzer Roman, was er an der Stelle des Unwürdigen morgenden Tages tun
würde, entwickelte sich in seiner Seele, angenehme Phantasien
begleiteten ihn in das Reich des Schlafes sanft hinüber und überließen
ihn dort ihren Geschwistern, den Träumen, die ihn mit offenen Armen
aufnahmen und das ruhende Haupt unsers Freundes mit dem Vorbilde des
Himmels umgaben.
Am frühen Morgen war er schon wieder erwacht und dachte seiner
vorstehenden Unterhandlung nach. Er kehrte in das Haus der
verlassenen Eltern zurück, wo man ihn mit Verwunderung aufnahm. Er
trug sein Anbringen bescheiden vor und fand gar bald mehr und weniger
Schwierigkeiten, als er vermutet hatte. Geschehen war es einmal, und
wenngleich außerordentlich strenge und harte Leute sich gegen das
Vergangene und Nichtzuändernde mit Gewalt zu setzen und das Übel
dadurch zu vermehren pflegen, so hat dagegen das Geschehene auf die
Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und was unmöglich
schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Gemeinen
seinen Platz ein. Es war also bald ausgemacht, daß der Herr Melina
die Tochter heiraten sollte; dagegen sollte sie wegen ihrer Unart kein
Heiratsgut mitnehmen und versprechen, das Vermächtnis einer Tante noch
einige Jahre gegen geringe Interessen in des Vaters Händen zu lassen.
Der zweite Punkt, wegen einer bürgerlichen Versorgung, fand schon
größere Schwierigkeiten. Man wollte das ungeratene Kind nicht vor
Augen sehen, man wollte die Verbindung eines hergelaufenen Menschen
mit einer so angesehenen Familie, welche sogar mit einem
Superintendenten verwandt war, sich durch die Gegenwart nicht
beständig aufrücken lassen; man konnte ebensowenig hoffen, daß die
fürstlichen Kollegien ihm eine Stelle anvertrauen würden. Beide
Eltern waren gleich stark dagegen, und Wilhelm, der sehr eifrig dafür
sprach, weil er dem Menschen, den er geringschätzte, die Rückkehr auf
das Theater nicht gönnte und überzeugt war, daß er eines solchen
Glückes nicht wert sei, konnte mit allen seinen Argumenten nichts
ausrichten. Hätte er die geheimen Triebfedern gekannt, so würde er
sich die Mühe gar nicht gegeben haben, die Eltern überreden zu wollen.
Denn der Vater, der seine Tochter gerne bei sich behalten hätte,
haßte den jungen Menschen, weil seine Frau selbst ein Auge auf ihn
geworfen hatte, und diese konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche
Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Und so mußte Melina wider
seinen Willen mit seiner jungen Braut, die schon größere Lust bezeigte,
die Welt zu sehen und sich der Welt sehen zu lassen, nach einigen
Tagen abreisen, um bei irgendeiner Gesellschaft ein Unterkommen zu
finden.
I. Buch, 15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Glückliche Jugend! Glückliche Zeiten des ersten Liebesbedürfnisses!
Der Mensch ist dann wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt,
die Unkosten des Gespräches allein trägt und mit der Unterhaltung
wohl zufrieden ist, wenn der unsichtbare Gegenpart auch nur die
letzten Silben der ausgerufenen Worte wiederholt.
So war Wilhelm in den frühern, besonders aber in den spätern Zeiten
seiner Leidenschaft für Marianen, als er den ganzen Reichtum seines
Gefühls auf sie hinübertrug und sich dabei als einen Bettler ansah,
der von ihren Almosen lebte. Und wie uns eine Gegend reizender, ja
allein reizend vorkommt, wenn sie von der Sonne beschienen wird, so
war auch alles in seinen Augen verschönert und verherrlicht, was sie
umgab, was sie berührte.
Wie oft stand er auf dem Theater hinter den Wänden, wozu er sich das
Privilegium von dem Direktor erbeten hatte! Dann war freilich die
perspektivische Magie verschwunden, aber die viel mächtigere Zauberei
der Liebe fing erst an zu wirken. Stundenlang konnte er am
schmutzigen Lichtwagen stehen, den Qualm der Unschlittlampen einziehen,
nach der Geliebten hinausblicken und, wenn sie wieder hereintrat und
ihn freundlich ansah, sich in Wonne verloren dicht an dem Balken und
Lattengerippe in einen paradiesischen Zustand versetzt fühlen. Die
ausgestopften Lämmchen, die Wasserfälle von Zindel, die pappenen
Rosenstöcke und die einseitigen Strohhütten erregten in ihm liebliche
dichterische Bilder uralter Schäferwelt. Sogar die in der Nähe
häßlich erscheinenden Tänzerinnen waren ihm nicht immer zuwider, weil
sie auf einem Brette mit seiner Vielgeliebten standen.
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