Seine
Bettvorhänge waren in große Falten aufgezogen und mit Quasten
befestigt, wie man Thronen vorzustellen pflegt; er hatte sich einen
Teppich in die Mitte des Zimmers und einen feinern auf den Tisch
anzuschaffen gewußt; seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte
er fast mechanisch so, daß ein niederländischer Maler gute Gruppen zu
seinen Stilleben hätte herausnehmen können. Eine weiße Mütze hatte er
wie einen Turban zurechtgebunden und die Ärmel seines Schlafrocks nach
orientalischem Kostüme kurz stutzen lassen. Doch gab er hiervon die
Ursache an, daß die langen, weiten Ärmel ihn im Schreiben hinderten.
Wenn er abends ganz allein war und nicht mehr fürchten durfte, gestört
zu werden, trug er gewöhnlich eine seidene Schärpe um den Leib, und er
soll manchmal einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer
zugeeignet, in den Gürtel gesteckt und so die ihm zugeteilten
tragischen Rollen memoriert und probiert, ja in ebendem Sinne sein
Gebet kniend auf dem Teppich verrichtet haben.
Wie glücklich pries er daher in früheren Zeiten den Schauspieler, den
er im Besitz so mancher majestätischen Kleider, Rüstungen und Waffen
und in steter Übung eines edlen Betragens sah, dessen Geist einen
Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten, was die Welt an
Verhältnissen, Gesinnungen und Leidenschaften hervorgebracht,
darzustellen schien. Ebenso dachte sich Wilhelm auch das häusliche
Leben eines Schauspielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und
Beschäftigungen, davon die Erscheinung auf dem Theater die äußerste
Spitze sei, etwa wie ein Silber, das vom Läuterfeuer lange
herumgetrieben worden, endlich farbig-schön vor den Augen des
Arbeiters erscheint und ihm zugleich andeutet, daß das Metall nunmehr
von allen fremden Zusätzen gereiniget sei.
Wie sehr stutzte er daher anfangs, wenn er sich bei seiner Geliebten
befand und durch den glücklichen Nebel, der ihn umgab, nebenaus auf
Tische, Stühle und Boden sah. Die Trümmer eines augenblicklichen,
leichten und falschen Putzes lagen, wie das glänzende Kleid eines
abgeschuppten Fisches, zerstreut in wilder Unordnung durcheinander.
Die Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, als Kämme, Seife, Tücher,
waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls nicht versteckt.
Musik, Rollen und Schuhe, Wäsche und italienische Blumen, Etuis,
Haarnadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bücher und Strohhüte, keines
verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein
gemeinschaftliches Element, durch Puder und Staub, vereinigt. Jedoch
da Wilhelm in ihrer Gegenwart wenig von allem andern bemerkte, ja
vielmehr ihm alles, was ihr gehörte, sie berührt hatte, lieb werden
mußte, so fand er zuletzt in dieser verworrenen Wirtschaft einen Reiz,
den er in seiner stattlichen Prunkordnung niemals empfunden hatte. Es
war ihm—wenn er hier ihre Schnürbrust wegnahm, um zum Klavier zu
kommen, dort ihre Röcke aufs Bette legte, um sich setzen zu können,
wenn sie selbst mit unbefangener Freimütigkeit manches Natürliche, das
man sonst gegen einen andern aus Anstand zu verheimlichen pflegt, vor
ihm nicht zu verbergen suchte—es war ihm, sag ich, als wenn er ihr
mit jedem Augenblicke näher würde, als wenn eine Gemeinschaft zwischen
ihnen durch unsichtbare Bande befestigt würde.
Nicht ebenso leicht konnte er die Aufführung der übrigen Schauspieler,
die er bei seinen ersten Besuchen manchmal bei ihr antraf, mit seinen
Begriffen vereinigen. Geschäftig im Müßiggange, schienen sie an ihren
Beruf und Zweck am wenigsten zu denken; über den poetischen Wert eines
Stückes hörte er sie niemals reden und weder richtig noch unrichtig
darüber urteilen; es war immer nur die Frage: "Was wird das Stück
machen? Ist es ein Zugstück? Wie lange wird es spielen? Wie oft
kann es wohl gegeben werden?" und was Fragen und Bemerkungen dieser
Art mehr waren. Dann ging es gewöhnlich auf den Direktor los, daß er
mit der Gage zu karg und besonders gegen den einen und den andern
ungerecht sei, dann auf das Publikum, daß es mit seinem Beifall selten
den rechten Mann belohne, daß das deutsche Theater sich täglich
verbessere, daß der Schauspieler nach seinen Verdiensten immer mehr
geehrt werde und nicht genug geehrt werden könne. Dann sprach man
viel von Kaffeehäusern und Weingärten und was daselbst vorgefallen,
wieviel irgendein Kamerad Schulden habe und Abzug leiden müsse, von
Disproportion der wöchentlichen Gage, von Kabalen einer Gegenpartei;
wobei denn doch zuletzt die große und verdiente Aufmerksamkeit des
Publikums wieder in Betracht kam und der Einfluß des Theaters auf die
Bildung einer Nation und der Welt nicht vergessen wurde.
Alle diese Dinge, die Wilhelmen sonst schon manche unruhige Stunde
gemacht hatten, kamen ihm gegenwärtig wieder ins Gedächtnis, als ihn
sein Pferd langsam nach Hause trug und er die verschiedenen Vorfälle,
die ihm begegnet waren, überlegte. Die Bewegung, welche durch die
Flucht eines Mädchens in eine gute Bürgerfamilie, ja in ein ganzes
Städtchen gekommen war, hatte er mit Augen gesehen; die Szenen auf der
Landstraße und im Amthause, die Gesinnungen Melinas, und was sonst
noch vorgegangen war, stellten sich ihm wieder dar und brachten seinen
lebhaften, vordringenden Geist in eine Art von sorglicher Unruhe, die
er nicht lange ertrug, sondern seinem Pferde die Sporen gab und nach
der Stadt zu eilte.
Allein auch auf diesem Wege rannte er nur neuen Unannehmlichkeiten
entgegen. Werner, sein Freund und vermutlicher Schwager, wartete auf
ihn, um ein ernsthaftes, bedeutendes und unerwartetes Gespräch mit ihm
anzufangen.
Werner war einer von den geprüften, in ihrem Dasein bestimmten Leuten,
die man gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil sie bei Anlässen
weder schnell noch sichtlich auflodern; auch war sein Umgang mit
Wilhelmen ein anhaltender Zwist, wodurch sich ihre Liebe aber nur
desto fester knüpfte: denn ungeachtet ihrer verschiedenen Denkungsart
fand jeder seine Rechnung bei dem andern. Werner tat sich darauf
etwas zugute, daß er dem vortrefflichen, obgleich gelegentlich
ausschweifenden Geist Wilhelms mitunter Zügel und Gebiß anzulegen
schien, und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er
seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm.
So übte sich einer an dem andern, sie wurden gewohnt, sich täglich zu
sehen, und man hätte sagen sollen, das Verlangen, einander zu finden,
sich miteinander zu besprechen, sei durch die Unmöglichkeit, einander
verständlich zu werden, vermehrt worden. Im Grunde aber gingen sie
doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander
nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum denn keiner den
andern auf seine Gesinnung reduzieren könne.
Werner bemerkte seit einiger Zeit, daß Wilhelms Besuche seltner wurden,
daß er in Lieblingsmaterien kurz und zerstreut abbrach, daß er sich
nicht mehr in lebhafte Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte,
an welcher sich freilich ein freies, in der Gegenwart des Freundes
Ruhe und Zufriedenheit findendes Gemüt am sichersten erkennen läßt.
Der pünktliche und bedächtige Werner suchte anfangs den Fehler in
seinem eignen Betragen, bis ihn einige Stadtgespräche auf die rechte
Spur brachten und einige Unvorsichtigkeiten Wilhelms ihn der Gewißheit
näher führten. Er ließ sich auf eine Untersuchung ein und entdeckte
gar bald, daß Wilhelm vor einiger Zeit eine Schauspielerin öffentlich
besucht, mit ihr auf dem Theater gesprochen und sie nach Hause
gebracht habe; er wäre trostlos gewesen, wenn ihm auch die nächtlichen
Zusammenkünfte bekannt geworden wären, denn er hörte, daß Mariane ein
verführerisches Mädchen sei, die seinen Freund wahrscheinlich ums Geld
bringe und sich noch nebenher von dem unwürdigsten Liebhaber
unterhalten lasse.
Sobald er seinen Verdacht soviel möglich zur Gewißheit erhoben,
beschloß er einen Angriff auf Wilhelmen und war mit allen Anstalten
völlig in Bereitschaft, als dieser eben verdrießlich und verstimmt von
seiner Reise zurückkam.
Werner trug ihm noch denselbigen Abend alles, was er wußte, erst
gelassen, dann mit dem dringenden Ernste einer wohldenkenden
Freundschaft vor, ließ keinen Zug unbestimmt und gab seinem Freunde
alle die Bitterkeiten zu kosten, die ruhige Menschen an Liebende mit
tugendhafter Schadenfreude so freigebig auszuspenden pflegen. Aber
wie man sich denken kann, richtete er wenig aus. Wilhelm versetzte
mit inniger Bewegung, doch mit großer Sicherheit: "Du kennst das
Mädchen nicht! Der Schein ist vielleicht nicht zu ihrem Vorteil, aber
ich bin ihrer Treue und Tugend so gewiß als meiner Liebe."
Werner beharrte auf seiner Anklage und erbot sich zu Beweisen und
Zeugen. Wilhelm verwarf sie und entfernte sich von seinem Freunde
verdrießlich und erschüttert wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt
einen schadhaften festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens daran
geruckt hat.
Höchst unbehaglich fand sich Wilhelm, das schöne Bild Marianens erst
durch die Grillen der Reise, dann durch Werners Unfreundlichkeit in
seiner Seele getrübt und beinahe entstellt zu sehen. Er griff zum
sichersten Mittel, ihm die völlige Klarheit und Schönheit
wiederherzustellen, indem er nachts auf den gewöhnlichen Wegen zu ihr
hineilte. Sie empfing ihn mit lebhafter Freude; denn er war bei
seiner Ankunft vorbeigeritten, sie hatte ihn diese Nacht erwartet, und
es läßt sich denken, daß alle Zweifel bald aus seinem Herzen
vertrieben wurden. Ja, ihre Zärtlichkeit schloß sein ganzes Vertrauen
wieder auf, und er erzählte ihr, wie sehr sich das Publikum, wie sehr
sich sein Freund an ihr versündiget.
Mancherlei lebhafte Gespräche führten sie auf die ersten Zeiten ihrer
Bekanntschaft, deren Erinnerung eine der schönsten Unterhaltungen
zweier Liebenden bleibt. Die ersten Schritte, die uns in den
Irrgarten der Liebe bringen, sind so angenehm, die ersten Aussichten
so reizend, daß man sie gar zu gern in sein Gedächtnis zurückruft.
Jeder Teil sucht einen Vorzug vor dem andern zu behalten, er habe
früher, uneigennütziger geliebt, und jedes wünscht in diesem
Wettstreite lieber überwunden zu werden als zu überwinden.
Wilhelm wiederholte Marianen, was sie schon so oft gehört hatte, daß
sie bald seine Aufmerksamkeit von dem Schauspiel ab und auf sich
allein gezogen habe, daß ihre Gestalt, ihr Spiel, ihre Stimme ihn
gefesselt; wie er zuletzt nur die Stücke, in denen sie gespielt,
besucht habe, wie er endlich aufs Theater geschlichen sei, oft, ohne
von ihr bemerkt zu werden, neben ihr gestanden habe; dann sprach er
mit Entzücken von dem glücklichen Abende, an dem er eine Gelegenheit
gefunden, ihr eine Gefälligkeit zu erzeigen und ein Gespräch
einzuleiten.
Mariane dagegen wollte nicht Wort haben, daß sie ihn so lange nicht
bemerkt hätte; sie behauptete, ihn schon auf dem Spaziergange gesehen
zu haben, und bezeichnete ihm zum Beweis das Kleid, das er am selbigen
Tage angehabt; sie behauptete, daß er ihr damals vor allen andern
gefallen und daß sie seine Bekanntschaft gewünscht habe.
Wie gern glaubte Wilhelm das alles! Wie gern ließ er sich überreden,
daß sie zu ihm, als er sich ihr genähert, durch einen
unwiderstehlichen Zug hingeführt worden, daß sie absichtlich zwischen
die Kulissen neben ihn getreten sei, um ihn näher zu sehen und
Bekanntschaft mit ihm zu machen, und daß sie zuletzt, da seine
Zurückhaltung und Blödigkeit nicht zu überwinden gewesen, ihm selbst
Gelegenheit gegeben und ihn gleichsam genötigt habe, ein Glas Limonade
herbeizuholen.
Unter diesem liebevollen Wettstreit, den sie durch alle kleinen
Umstände ihres kurzen Romans verfolgten, vergingen ihnen die Stunden
sehr schnell, und Wilhelm verließ völlig beruhigt seine Geliebte mit
dem festen Vorsatze, sein Vorhaben unverzüglich ins Werk zu richten.
I. Buch, 16. Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Was zu seiner Abreise nötig war, hatten Vater und Mutter besorgt; nur
einige Kleinigkeiten, die an der Equipage fehlten, verzögerten seinen
Aufbruch um einige Tage. Wilhelm benutzte diese Zeit, um an Marianen
einen Brief zu schreiben, wodurch er die Angelegenheit endlich zur
Sprache bringen wollte, über welche sie sich mit ihm zu unterhalten
bisher immer vermieden hatte. Folgendermaßen lautete der Brief:
"Unter der lieben Hülle der Nacht, die mich sonst in deinen Armen
bedeckte, sitze ich und denke und schreibe an dich, und was ich sinne
und treibe, ist nur um deinetwillen. O Mariane! mir, dem
glücklichsten unter den Männern, ist es wie einem Bräutigam, der
ahnungsvoll, welch eine neue Welt sich in ihm und durch ihn entwickeln
wird, auf den festlichen Teppichen steht und während der heiligen
Zeremonien sich gedankenvoll lüstern vor die geheimnisreichen Vorhänge
versetzt, woher ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegensäuselt.
Ich habe über mich gewonnen, dich in einigen Tagen nicht zu sehen; es
war leicht in Hoffnung einer solchen Entschädigung, ewig mit dir zu
sein, ganz der Deinige zu bleiben! Soll ich wiederholen, was ich
wünsche? Und doch ist es nötig; denn es scheint, als habest du mich
bisher nicht verstanden.
Wie oft habe ich mit leisen Tönen der Treue, die, weil sie alles zu
halten wünscht, wenig zu sagen wagt, an deinem Herzen geforscht nach
dem Verlangen einer ewigen Verbindung. Verstanden hast du mich gewiß:
denn in deinem Herzen muß ebender Wunsch keimen; vernommen hast du
mich in jedem Kusse, in der anschmiegenden Ruhe jener glücklichen
Abende. Da lernt ich deine Bescheidenheit kennen, und wie vermehrte
sich meine Liebe! Wo eine andere sich künstlich betragen hätte, um
durch überflüssigen Sonnenschein einen Entschluß in dem Herzen ihres
Liebhabers zur Reife zu bringen, eine Erklärung hervorzulocken und ein
Versprechen zu befestigen, eben da ziehst du dich zurück, schließest
die halbgeöffnete Brust deines Geliebten wieder zu und suchst durch
eine anscheinende Gleichgültigkeit deine Beistimmung zu verbergen;
aber ich verstehe dich! Welch ein Elender müßte ich sein, wenn ich an
diesen Zeichen die reine, uneigennützige, nur für den Freund besorgte
Liebe nicht erkennen wollte! Vertraue mir und sei ruhig! Wir gehören
einander an, und keins von beiden verläßt oder verliert etwas, wenn
wir füreinander leben.
Nimm sie hin, diese Hand! feierlich noch dies überflüssige Zeichen!
Alle Freuden der Liebe haben wir empfunden, aber es sind neue
Seligkeiten in dem bestätigten Gedanken der Dauer. Frage nicht, wie?
Sorge nicht! Das Schicksal sorgt für die Liebe, und um so gewisser,
da Liebe genügsam ist.
Mein Herz hat schon lange meiner Eltern Haus verlassen; es ist bei dir,
wie mein Geist auf der Bühne schwebt.
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